Sophienlust Classic 50 – Familienroman. Patricia Vandenberg
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Genau zwei Stunden später geriet der Wagen von Klaus Sattler auf einer unübersichtlichen Alpenstraße ins Schleudern, weil ein entgegenkommender Fahrer unvorschriftsmäßig die Kurve schnitt und nicht mehr auszuweichen vermochte.
Als der Anruf kam, schlief Angela Sattler schon. Klaus Sattler lebte nicht mehr. Durch die Rücksichtslosigkeit und Fahrlässigkeit eines Fremden war sein junges Leben ausgelöscht worden. Die Ärzte beschlossen, es Angela zu verheimlichen, um den Erfolg der riskanten Operation nicht zu gefährden. Niemand vermochte es, die Sinnlosigkeit dieses unerwarteten Schicksalsschlages zu begreifen. Würde Angela Sattler ihrem Mann ins Reich der Ewigkeit folgen, ohne von seinem tragischen Ende etwas erfahren zu haben?
*
Denise weinte bitterlich, als sie die Nachricht erhielt. Henrik, der seine Mutter in ihrem Zimmer hatte aufsuchen wollen, schlich sich lautlos wieder fort. Glücklicherweise fand er Nick in dessen Klause vor.
»Du, Nick, Mutti weint«, stotterte Henrik unsicher. »Ob was passiert ist?«
Nick, braunäugig und dunkelhaarig, ganz das Ebenbild seiner schönen Mutter, vergaß seine eigenen Sorgen. Bei einem Vergleich mit dem Text hatte sich leider herausgestellt, dass er bei der Lateinarbeit mindestens sieben Kardinalfehler gemacht hatte. Er konnte sich leicht ausrechnen, dass sich daraus eine schlechte Note ergab.
»Mutti weint?«, fragte er betroffen. »Dann ist bestimmt etwas passiert. Meinst du, ich sollte zu ihr gehen und sie fragen? Vati ist natürlich ausgerechnet heute nicht hier.«
Eben war Nick darüber noch froh gewesen, weil er dadurch die Beichte über die zu erwartende schlechte Note aufschieben konnte. Doch jetzt wünschte er seinen Stiefvater aus ganzem Herzen herbei, weil er wusste, dass kein anderer seine geliebte Mutti so zu trösten verstand, wie Alexander von Schoenecker.
»Geh lieber«, meinte Henrik mit großen Augen. »Sie hat gar nicht gemerkt, dass ich in ihrem Zimmer war. Dabei hatte ich sogar angeklopft.«
»Na gut.« Nick seufzte und begab sich auf den Weg. Mutti in Tränen – das war ungewöhnlich und beunruhigend. Er durfte jetzt ganz einfach nicht kneifen, sondern musste versuchen, ihr zu helfen. Das war seine Pflicht.
Während Henrik sich ängstlich im Hintergrund hielt, klopfte Nick an Denises Tür und trat ein, ohne auf ihren Ruf zu warten. Es stimmte, seine Mutti weinte. Henrik hatte sich nicht geirrt.
»Mutti …«
Denise hob den Kopf und streckte die Hand nach ihrem Sohn aus.
»Mutti, was ist denn?« Wie als kleiner Bub setzte Nick sich seiner Mutter zu Füßen und schaute zu ihr auf. »Sag’s mir, Mutti.«
»Es ist etwas sehr Trauriges geschehen, Nick. Bettinas Vater ist mit dem Wagen tödlich verunglückt, als er seine Frau in der Schweiz besuchen wollte.«
»Das ist schrecklich«, flüsterte Nick. Er war blass geworden. »Bettinas Mutter ist doch so schwer krank…«
Denise neigte den Kopf. »Das ist es ja, was mich so bedrückt, mein Junge. Angela Sattler ist operiert worden. Noch kann man nicht sagen, ob sie den Eingriff überlebt und ob sie dadurch geheilt sein wird.«
»Dann …, dann würde Bettina vielleicht beide Eltern verlieren?« Des großen Jungen Lippen zitterten.
»Man muss mit dieser Möglichkeit rechnen, Nick, so bitter es sein mag.«
»Dann bleibt die kleine Bettina eben für immer in Sophienlust, Mutti. Denk’ doch an die Geschwister Langenbach. Sie haben damals die Eltern durch das schlimme Lawinenunglück verloren. Natürlich war das furchtbar. Aber heute gehören sie ganz zu uns und sind nicht mehr unglücklich. Bettina ist doch noch so klein. Sie würde sich an ihre Eltern bald nicht mehr erinnern. Es wäre für sie also sogar leichter als für Michael, Angelika und Vicky. Wie geht’s Vicky übrigens?«
Gerührt strich Denise über das dunkle Haar ihres Jungen, das immer etwas strubbelig wirkte.
»Vicky darf heute Nachmittag wieder aufstehen. Es war nur ein leichter Infekt. Übermorgen geht sie wieder in die Schule.«
»Na siehst du, das ist eine gute Nachricht!« Nick bemühte sich, etwas Positives zu äußern. »Vielleicht schafft es Bettinas Mutter auch und übersteht die Operation. Sie ist doch von einem weltberühmten Arzt operiert worden.«
»Ja, aber sie hat auch eine schwere Krankheit, Nick«, wandte Denis sorgenvoll ein.
»Du darfst nicht weinen, Mutti. Sophienlust soll denen helfen, die in Not geraten. Bettina kann bei uns bleiben. Darauf kommt es an. Ob ihre Mutti gesund wird, das weiß man eben jetzt noch nicht. Du kannst nichts daran ändern, denn zum besten Arzt habt ihr sie ja bringen lassen.«
Denise konnte plötzlich unter Tränen lachen. »Du hast recht, Nick. Mit Weinen bessert man gar nichts.«
Nick zog ein Taschentuch hervor, das nicht sehr sauber war, und reichte es seiner Mutter. »Da, Mutti! Nicht mehr weinen.«
Da umschloss Denise von Schoenecker den Kopf ihres Jungen mit beiden Händen und küsste ihn auf die Stirn. »Danke dir, Nick. Jetzt hast du mich wirklich getröstet. Übrigens wäre es nicht schlecht, wenn du dir ein frisches Taschentuch einstecktest.«
»Okay, Mutti.« Nick war zufrieden, dass seine Mutter nicht mehr weinte. Er trollte sich nun wortlos.
Im Treppenhaus trat ihm sein kleiner blonder Bruder in den Weg. »Na?«, fragte Henrik.
»Nun fang’ du nicht auch noch zu heulen an«, schalt Nick gutmütig. »Es ist alles in Ordnung. Sie weint schon nicht mehr.«
»Kann ich rein zu ihr?«
»Klar, geh nur!«
Henrik stürmte zu seiner Mutti, wobei er natürlich das Anklopfen vergaß, und überzeugte sich mit eigenen Augen, dass sie wieder lächelte.
*
Es zeigte sich, dass Denises Angst um Angela Sattler ihre Berechtigung gehabt hatte. Die Operation hatte keine Besserung gebracht. Die Kranke dämmerte nun dahin und wusste nichts mehr von sich selbst und ihrer Umwelt.
Nach reiflicher Überlegung entschloss sich der Arzt im Spätsommer zu einer zweiten Operation. Da Angela Sattler keine weiteren Angehörigen hatte, reiste Denise persönlich in die Schweiz, um während der entscheidenden Stunden und Tage in der Nähe zu sein. Und nun geschah das große Wunder. Angela konnte durch die zweite Operation gerettet werden. Bettina würde ihre Mutter nun doch nicht verlieren.
»Warum sind Sie hier?«, fragte die Patientin, als sie zum erstenmal bei vollem Bewusstsein die Augen aufschlug und Denise an ihrem Bett fand.
»Ich wollte mich persönlich davon überzeugen, dass es Ihnen besser geht, Angela.« Denise brachte die Kraft auf, zuversichtlich zu lächeln und nicht an Klaus Sattler zu denken, der nun schon seit Wochen unter der Erde ruhte.
»Bettina lässt ihre Mutti grüßen. Wir hoffen, dass Sie nachher zu uns nach Sophienlust kommen, um sich zu erholen. Vorerst wird man Sie allerdings noch eine Weile hier in Zürich behalten, denke ich.«
»Bettina geht es gut? Ich