Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk
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Über die Jahre hinweg hatte ich eintausendzweiundvierzig Geburtstage gesammelt und neunhundertneunundneunzig Todesdaten. Und ich führe weiterhin meine kleinen Untersuchungen durch. Ein Projekt ohne EU-Gelder. Ein Küchenprojekt.
Ich dachte immer, Astrologie soll man durch Praxis lernen. Sie ist eine exakte Disziplin, in hohem Maße empirisch und genauso wissenschaftlich wie etwa die Psychologie. Sie erfordert die genaue Beobachtung einiger Personen in ihrer Umgebung und die Verknüpfung gewisser Momente in ihrem Leben mit der Stellung der Planeten. Man muss auch die Ereignisse, an denen verschiedene Menschen teilgenommen haben, überprüfen und analysieren. Ganz schnell wird man merken, dass ähnliche astrologische Muster ähnliche Ereignisse beschreiben. Das sind die Momente, in denen es zur Initiation kommt. O ja, eine Ordnung besteht und sie ist zum Greifen nahe. Sie wird von den Sternen und Planeten gebildet, wobei der Himmel die Schablone ist, die das Muster unseres Lebens vorgibt. Nach längeren Studien kann man hier auf der Erde aus kleinen Details die Lage der Planeten am Himmel herauslesen. Das Gewitter am Nachmittag, der Brief, den der Postbote in den Türspalt geklemmt hat, die kaputte Glühbirne im Badezimmer. Nichts kann sich der Ordnung entziehen. Auf mich wirkt das wie Alkohol oder wie eines dieser neuen Rauschgifte, die, so stelle ich es mir vor, den Menschen in pure Verzückung versetzen.
Man muss Augen und Ohren aufsperren, die Fakten miteinander verknüpfen. Man muss Ähnlichkeiten dort erkennen, wo alle anderen diametrale Unterschiede sehen. Man darf nicht vergessen, dass manche Dinge auf einer ganz anderen Ebene geschehen, oder anders gesagt, dass viele Ereignisse nur Aspekte ein und derselben Sache sind. Die Welt ist ein großes Netz, eine Ganzheit, und es gibt nichts, was nicht dazugehört. Auch das allerkleinste Stückchen Welt ist mit anderen verbunden, durch den komplizierten Kosmos der Korrespondenz, der mit normalem Verstand nicht leicht zu ergründen ist. So funktioniert das. Wie ein japanisches Auto.
Dyzio, der sich gerne weitschweifig über die seltsame Symbolik bei Blake auslässt, hat meine Leidenschaft für die Astrologie nie teilen können. Das kommt daher, dass Dyzio zu spät geboren ist. Seine Generation hat Pluto in der Waage, was ihr Gespür dafür etwas schwächt. Diese Menschen versuchen ein Gegengewicht zur Hölle zu sein. Ich glaube nicht, dass ihnen das gelingen wird. Vielleicht können sie Projekte und Anträge verfassen, aber die meisten von ihnen haben kein Gespür mehr.
Ich bin in einer schönen Epoche groß geworden, die leider schon vergangen ist. In ihr herrschte sowohl enorme Veränderungsbereitschaft als auch das Vermögen, revolutionäre Visionen zu entwickeln. Heute wagt es niemand mehr, etwas Neues zu denken. Alle sagen nur pausenlos, wie es ist, und spinnen die alten Gedanken weiter. Die Realität ist alt und mürrisch geworden, schließlich unterliegt sie definitiv den gleichen Gesetzen wie jeder lebendige Organismus – sie altert. Ihre kleinsten Bestandteile – die Sinne – unterliegen der Apoptose ebenso wie die Körperzellen. Die Apoptose ist ein natürlicher Tod, der durch Materialermüdung und -abnutzung entsteht. Im Griechischen bedeutet das Wort das »Abfallen der Blätter«. Der Welt sind die Blätter abgefallen.
Doch danach muss etwas Neues kommen, so ist es immer gewesen – ist das nicht ein komisches Paradoxon? Uranus steht in Fische, und wenn er in den Widder wechselt, dann beginnt ein neuer Zyklus und die Realität wird wiedergeboren. Im übernächsten Frühling.
Ich habe immer sehr gerne die Horoskope studiert, selbst dann, als ich die Ordnungen des Todes entdeckte. Die Bewegung eines Planeten hat etwas Hypnotisches und Schönes, man kann sie weder anhalten noch vorantreiben. Es ist gut zu denken: Diese Ordnung geht über die Zeit und den Ort von Janina Duszejko hinaus. Es ist gut, sich vollkommen auf etwas verlassen zu können.
Also: Um den natürlichen Tod zu bezeichnen, überprüfen wir die Position des Hyleg, also desjenigen Himmelskörpers, der für uns aus dem Kosmos die Lebensenergie zieht. Bei tagsüber stattfindenden Geburten ist es die Sonne, bei Nachtgeburten der Mond, und in einigen Fällen regiert der Aszendent den Hyleg. Der Tod tritt üblicherweise dann ein, wenn der Hyleg einen radikal unharmonischen Aspekt vom Herrscher des Achten Hauses oder des darin liegenden Planeten erreicht.
Wenn ich an die Bedrohung durch einen gewaltsamen Tod denke, muss ich den in diesem Haus platzierten Hyleg, sein Haus und seine Planeten in Betracht ziehen. Ich achte dabei darauf, welcher der schädlichen Planeten – Mars, Saturn oder Uranus – stärker ist als der Hyleg und mit ihm zusammen einen ungünstigen Aspekt bildet.
An diesem Abend setzte ich mich an die Arbeit und zog das zerknüllte Blatt Papier aus der Tasche, auf das ich mir die Daten von Bigfoot notiert hatte, um zu überprüfen, ob sein Tod ihn zur rechten Zeit heimgesucht hatte. Als ich sein Geburtsdatum eingab, bemerkte ich, dass ich dieses auf ein Blatt aus einem Jagdkalender geschrieben hatte. Die Seite hieß »März«, und in einer Tabelle waren darauf die Figuren der Tiere gezeichnet, die man im März jagen durfte.
Auf dem Bildschirm vor mir sprang das Horoskop auf und fesselte meinen Blick eine ganze Stunde. Zuerst besah ich mir den Saturn. Der Saturn im fixen Zeichen weist nicht selten auf einen Tod durch Ersticken, Erwürgen oder Aufhängen hin. Zwei Abende lang plagte ich mich mit dem Horoskop von Bigfoot. Dann rief Dyzio an, und ich musste ihn davon abbringen, mich zu besuchen. Sein alter, wackerer Fiat polski wäre in dem Schneematsch stecken geblieben. Nein, Dyzio, diese Seele von Mensch, sollte bei sich daheim im Arbeiterwohnheim Blake übersetzen. Er sollte in der Dunkelkammer seines Geistes polnische Sentenzen aus englischen Negativen hervorholen. Es wäre besser, wenn er am Freitag käme, dann könnte ich ihm alles erzählen und ihm zum Beweis die präzise Ordnung der Sterne präsentieren.
Ich muss aufpassen. Inzwischen wage ich es, zuzugeben: Ich bin keine gute Astrologin, leider. Mein Charakter hat einen Schwachpunkt, der das Bild der Planeten verschleiert. Ich betrachte sie durch meine Angst hindurch, obwohl es den Anschein hat, als sei ich ein heiterer Mensch, was mir von den Leuten naiv und einfältig attestiert wird. Ich sehe alles wie in einem schwarzen Spiegel, wie durch eine beschlagene Scheibe. Ich betrachte die Welt so wie andere Menschen eine Sonnenfinsternis betrachten. Dabei sehe ich eine Erdfinsternis. Ich sehe, wie wir blind im ewigen Dunkel herumtappen, wie Maikäfer, die von einem grausamen Kind in einer Schachtel gefangen gehalten werden. Es ist leicht, uns Schaden und Leid zuzufügen, unser kunstvoll zusammengefügtes, wunderbares Dasein in Stücke zu schlagen. Das alles ist in meinen Augen anormal, schrecklich und bedrohlich. Ich sehe nur die Katastrophen. Doch wenn schon am Anfang der Untergang steht, kann man dann noch tiefer fallen?
Jedenfalls kenne ich das Datum meines eigenen Todes, und daher fühle ich mich frei.
5 Das Licht im Regen
»Gefängnisse werden mit den Quadern des Gesetzes gebaut,
Bordelle mit den Ziegeln der Religion.«
Es krachte und knallte, als ob im Nebenzimmer jemand eine aufgeblasene Papiertüte zerschlug.
Ich setzte mich im Bett auf, in der schrecklichen Ahnung, dass etwas Schlimmes passiert war und dass dieses Geräusch jemandes Todesurteil sein konnte. Es folgten weitere Schläge, also begann ich mich, noch immer schlaftrunken, hastig anzuziehen. Mitten im Zimmer blieb ich stehen, ich hatte mich im Pullover verheddert, und plötzlich wurde mir schwindelig – was tun? Wie immer an diesen Tagen war schönstes Wetter, der Wettergott war offenbar den Jägern wohlgesonnen. Die Sonne strahlte, sie war eben aufgegangen und noch rot vor Anstrengung, und sie warf lange, schläfrige Schatten. Ich trat vors Haus, und wieder schien mir, als liefen meine Mädchen an mir vorüber ins Freie, als sprängen sie direkt in den Schnee, als freuten sie sich über den aufziehenden Tag. So offen und schamlos zeigten sie ihre Freude, dass es mich fast kränkte. Ich werfe einen Schneeball nach ihnen, und sie behandeln das als Erlaubnis zu allen möglichen Tollheiten und beginnen sofort eine chaotische Verfolgungsjagd, worin die Jagende jeden Moment die Verfolgte sein kann und von einer Sekunde auf die andere die Vorzeichen für dieses Rennen umkehrt. Ihre Freude wird schließlich so grenzenlos, dass sie