Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk

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Gesang der Fledermäuse - Olga Tokarczuk

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ein Bein irgendwie steif wurde, es war ganz taub, und ich fühlte ein Stechen. Beim Gehen zog ich es nach und humpelte. Dazu kam, dass meine Augen seit einem Monat immer wieder plötzlich und grundlos tränten.

      Ich entschloss mich, heute trotz Schmerzen den Abhang hinaufzugehen und alles von oben zu betrachten. Sicher wäre die Welt noch an ihrem Ort. Vielleicht würde mich das beruhigen und bewirken, dass sich meine Kehle lockerte und es mir besser ginge. Bigfoot tat mir überhaupt nicht leid. Doch immer, wenn ich sein Haus von Weitem sah, fiel mir sein toter Körper ein, der Körper eines Kobolds in einem kaffeebraunen Anzug, und dann fielen mir die Körper aller lebenden Bekannten ein, die glücklich in ihren Häusern wohnten. Auch ich selbst, mein Bein und der magere, sehnige Körper Matogas, alles schien mir durchsetzt mit ungeheurer Traurigkeit, unerträglich. Ich blickte auf die schwarzweiße Landschaft des Hochplateaus, und mir war klar, dass Traurigkeit ein wichtiges Wort bei der Definition der Welt war. Sie liegt allem zugrunde, sie ist das fünfte Element, die Quintessenz.

      Die Landschaft, die vor mir ausgebreitet lag, bestand aus schwarzweißen Schattierungen, aus miteinander verflochtenen Baumreihen entlang der Feldraine. Dort, wo das Gras nicht gemäht wurde, bildete der Schnee keine einheitliche weiße Ebene. Die einzelnen Halme stachen durch seine Oberfläche, was von Weitem so aussah, als hätte eine riesige Hand eben begonnen, ein abstraktes Muster zu skizzieren, als übte sie mit kurzen Strichen, zart und subtil. Ich erkannte feine Figuren, geometrische Felder, Streifen und Rechtecke, jedes anders strukturiert, auf eigene Weise schattiert, verschieden geneigt in der eiligen Winterdämmerung. Und unsere Häuser, alle sieben, standen hier hingeworfen wie ein Teil der Natur, als seien sie zusammen mit den Feldrainen gewachsen, ebenso wie der Bach und die Brücke über den Bach. All das schien sorgfältig projektiert und komponiert zu sein, vielleicht von derselben Hand, die hier Skizzen verfertigt hatte.

      Auch ich hätte eine Karte dieser Gegend aus dem Gedächtnis zeichnen können. Unser Hochplateau hätte darauf die Form eines dicken Halbmondes bekommen, von einer Seite umgeben von den Silberbergen, einer eher kleinen, niedrigen Bergkette, die halb zu uns, halb zu Tschechien gehört. Auf der anderen, der polnischen Seite standen die Weißen Berge. Dort gibt es nur eine Siedlung – unsere. Das Dorf und die Stadt und alles andere liegen im Tal, im Nordosten. Der Niveauunterschied zwischen dem Hochplateau und dem restlichen Glatzer Kessel ist nicht groß, aber es genügt, um sich hier etwas erhöht zu fühlen und auf alles von oben herabzusehen. Der Weg klettert vom Tal gemächlich, von Norden her eher sanft nach oben, aber die östliche Seite des Hochplateaus ist weiter unten ziemlich steil, sodass die Abfahrt im Winter gefährlich ist. In strengen Wintern leitet die Straßenaufsicht den Verkehr hier um. Wir benutzen den Weg dann unerlaubt, auf eigenes Risiko. Natürlich nur mit einem guten Auto. Eigentlich spreche ich nur von mir. Matoga hat nur ein Moped, und Bigfoot ging zu Fuß. Das steile Stück nennen wir den Steilpass. Unweit davon befindet sich noch ein steiniger Abhang. Wer den für ein Werk der Natur hält, der irrt sich. Es ist nämlich das Überbleibsel eines ehemaligen Steinbruchs, der sich früher einmal in das Hochplateau hineingefressen hatte und es wahrscheinlich irgendwann ganz und gar mit seinen Baggerzähnen verschlungen hätte. Angeblich gibt es Pläne, den Steinbruch wiederzubeleben. Dann werden wir völlig von der Erdoberfläche verschwinden, in den Bäuchen der Maschinen.

      Über den Steilpass führt ein Feldweg ins Dorf, der nur sommers befahren wird. Im Westen mündet der Weg in einen anderen, breiteren Weg, doch das ist noch nicht die Hauptstraße. Hier liegt ein Landstrich, den ich für mich Transsylvanien nenne, wegen der hier allgemein vorherrschenden Stimmung. Dort gibt es einen Laden, kaputte Skilifte und einen Hort für Kinder. Der Horizont verläuft hier sehr weit oben, sodass dort ewige Dämmerung herrscht. Am hintersten Ende dieses Landstrichs gibt es noch einen Seitenweg, der zu einer Fuchsfarm führt, aber ich vermeide es, in diese Richtung zu gehen.

      Jenseits von Transsylvanien, gleich bei der Auffahrt auf die internationale Route, gibt es eine scharfe Kurve, an der es oft zu Unfällen kommt. Dyzio hat sie die Rinderherzkurve genannt, weil er einmal gesehen hatte, wie aus einem Lkw vom Schlachthof eines städtischen Bonzen eine Kiste mit Innereien fiel und die Herzen der Rinder über die Straße kollerten, jedenfalls behauptet er das. Es scheint mir ziemlich makaber, und ich bin keineswegs sicher, ob er sich das alles nur eingebildet hat. Dyzio ist manchmal hypersensibel, besonders bei gewissen Themen. Der Asphaltweg verbindet die Städte im Kessel. Bei gutem Wetter kann man auch von unserem Hochplateau diesen Weg sehen, und die darauf aufgefädelten Städte Kudowa und Lewin, und im Norden sogar, in weiter Ferne, die Orte Nowa Ruda, Kłodzko, zu deutsch Glatz, und Ząbkowice, das vor dem Krieg Frankenstein hieß.

      Das ist schon die große weite Welt. Ich fuhr immer mit meinem Samurai über den Steilpass in die Stadt. Nach dem steilen Stück ging es links ab zur launisch gewundenen Grenze, die man bei jedem längeren Spaziergang ganz leicht und unbemerkt überschreiten konnte. Das passierte mir oft aus Unachtsamkeit, wenn ich bei meinem Rundgang so weit kam. Aber manchmal wollte ich sie auch absichtlich überschreiten, hin und her. Zwanzig-, dreißigmal. So amüsierte ich mich eine halbe Stunde mit Grenzüberschreitungen. Es macht mir Spaß, weil es mich an die Zeit erinnert, als es nicht möglich war. Grenzen zu überschreiten gefällt mir.

      Meistens kontrollierte ich zuerst das Professorenhaus, mein Lieblingshaus. Es war klein und schlicht. Ein schweigsames, einsames Häuschen mit weißen Mauern. Das Professorenehepaar wohnte selten dort, öfter als sie tauchten ihre Kinder hier mit Freunden auf, und dann trug der Wind ihre lauten Stimmen zu mir herüber. Das Haus mit offenen Fensterläden, hell erleuchtet und voll lauter Musik, schien mir überrumpelt und wie betäubt zu sein. Man könnte sagen, dass es mit den sperrangelweit klaffenden Fensteröffnungen idiotisch aussah. Es kam aber sofort wieder zu sich, wenn sie abreisten. Sein Schwachpunkt war das steile Dach. Der Schnee rutschte von ihm herunter und lag bis in den Mai hinein an der nordseitigen Mauer, und durch diese drang Feuchtigkeit nach innen. Dann musste ich den Schnee wegräumen, eine schwere und undankbare Arbeit. Im Frühling bestand meine Aufgabe darin, den Garten in Ordnung zu halten. Ich pflanzte Blumen und pflegte alles, was auf dem Stückchen Erde vor dem Haus wuchs. Das tat ich gern. Es kam vor, dass kleinere Reparaturen notwendig waren, dann rief ich die Eigentümer in Wrocław an, und sie überwiesen mir Geld auf ein Konto. Damit konnte ich Arbeiter beauftragen und die Arbeiten lediglich beaufsichtigen.

      Ich bemerkte in diesem Winter auch, dass in ihrem Keller Fledermäuse wohnten, eine ziemlich große Familie. In den Keller war ich nur deshalb hinabgestiegen, weil ich glaubte, von dort käme das Geräusch tropfenden Wassers. Ein Rohrbruch wäre ein ziemliches Malheur gewesen. Doch dann sah ich die im steinernen Deckengewölbe zusammengedrängte Schar der schlafenden Fledermäuse. Sie hingen bewegungslos dort, und es sah aus, als beobachteten sie mich im Schlaf, als spiegele sich das Licht der Glühbirnen in ihren offenen Augen. Flüsternd verabschiedete ich mich von ihnen, bis zum Frühling. Einen Wasserschaden hatte ich nicht entdecken können, und so stieg ich auf Zehenspitzen wieder nach oben.

      Im Haus der Schriftstellerin gab es Marder. Ich gab ihnen keine einzelnen Namen, denn ich konnte sie weder zählen noch unterscheiden. Man sieht sie nur selten, und das ist ihre besondere Eigenschaft, sie sind wie Geister. Sie erscheinen und verschwinden so schnell, dass man nicht glaubt, was man gesehen hat. Schöne Tiere, die Marder. Ich würde sie im Wappen tragen, bei Bedarf. Sie scheinen leicht und unschuldig zu sein, aber der Schein trügt. In Wirklichkeit sind es gefährliche und durchtriebene Wesen. Zwischen ihnen und den Katzen, Mäusen und Vögeln herrscht ewiger Kleinkrieg, und auch untereinander wird ständig gekämpft. Im Haus der Schriftstellerin hatten sie sich zwischen den Dachziegeln und der Wärmedämmung des Speichers eingenistet, und ich habe sie in Verdacht, dass sie dort Verwüstungen anrichten, die Mineralwolle wegreißen und Löcher in die Holzplatten beißen.

      Die Schriftstellerin kam meistens im Mai angereist, ihr Auto voll gestopft mit Büchern und exotischen Nahrungsmitteln. Ich half ihr immer beim Auspacken, denn sie hatte eine kranke Wirbelsäule. Nach einem Unfall trug sie eine orthopädische Halskrause. Aber vielleicht war ihre Wirbelsäule auch vom Schreiben kaputt. Sie sah aus wie jemand, der Pompeji überlebt hatte, als sei sie unter Asche begraben gewesen. Ihr Gesicht war fahl, sowohl die Farbe der Lippen als auch die der

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