Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk

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Gesang der Fledermäuse - Olga Tokarczuk

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getan. Wer sonst hätte es tun sollen?« Matoga sprach mehr zu sich selbst als zu mir. »Er war ein armer kleiner Dreckskerl, aber was soll’s?«

      Er schenkte sich noch ein Glas ein, kippte es hinunter und schüttelte sich angewidert. Er hatte sichtlich keine Übung darin.

      »Ich gehe telefonieren.« Er ging hinaus, vielleicht war ihm schlecht geworden.

      Ich stand auf und inspizierte das entsetzliche Durcheinander in der Hoffnung, irgendwo Bigfoots Personalausweis mit seinem Geburtsdatum zu finden. Das wollte ich wissen, ich wollte seine Rechnungen überprüfen.

      Auf dem mit verschlissenem Wachstuch bedeckten Tisch stand eine Pfanne mit den gebratenen Stücken eines Tieres, und im Kochtopf daneben schlummerte unter einer weißen Fettschicht eine Rote-Bete-Suppe. Eine abgeschnittene Brotscheibe, Butter in goldener Folie. Auf dem mit abgetretenem Linoleum ausgelegten Boden lagen noch weitere Tierreste, die mit dem Teller auf den Boden gefallen waren, auch Gläser und Kekskrümel. Alles war auf dem schmutzigen Boden zertrampelt und verschmiert.

      Plötzlich fiel mein Blick auf etwas, das mein Gehirn erst nach längerem Hinsehen erkannte, weil es sich dagegen wehrte: Auf einem Blechtablett auf der Fensterbank lag ein sorgfältig abgetrennter Rehschädel. Daneben vier Rehbeine. Die halb offenen Augen hatten unser Hantieren die ganze Zeit aufmerksam verfolgt.

      Es war eines dieser ausgehungerten Rehe, die sich im Winter naiv in eine Falle mit angefrorenen Äpfeln locken lassen und die dann, von der Schlinge erfasst, qualvoll vom Draht erwürgt werden.

      Als mir langsam bewusst wurde, was hier geschehen war, packte mich das Grauen. Er hatte das Reh mit einer Drahtschlinge gefangen, es umgebracht, sein Fleisch zerstückelt, gebraten und gegessen. Ein Lebewesen hatte ein anderes aufgegessen, schweigend, in aller Stille, in der Nacht. Niemand hatte protestiert, kein Blitz war hineingefahren. Doch der Dämon war seiner Strafe nicht entgangen, obwohl keine Menschenhand seinen Tod herbeigeführt hatte.

      Rasch, mit zitternden Händen schob ich die Überreste, alle kleineren Knochen, zu einem Haufen zusammen, um sie später zu begraben. Ich stopfte alles in eine alte Plastiktüte, die herumlag, jeden einzelnen der kleinen Knochen packte ich in dieses Leichentuch aus Plastik. Auch den Schädel steckte ich in die Tüte.

      Ich wollte den Geburtstag von Bigfoot erfahren, der Wunsch war so dringend, dass ich im Geschirrschrank, unter vielen anderen Papieren, Kalenderblättern und Zeitungen nervös seinen Ausweis suchte und die Schubladen durchwühlte, wo man in Landhäusern die Dokumente aufbewahrte. Dort fand ich ihn auch, in einer kaputten grünen Hülle, sicher war er schon abgelaufen. Auf dem Bild war Bigfoot etwas über zwanzig Jahre alt. Ein längliches, asymmetrisches Gesicht mit irgendwie verkniffenen Augen. Nicht schön, nicht einmal damals. Mit einem Bleistiftstummel notierte ich mir Datum und Ort seiner Geburt. Bigfoot war am 21. Dezember 1950 geboren. Hier.

      Ich sollte sagen, dass in der Schublade noch etwas war: ein Stapel Fotos, ziemlich neu, in Farbe. Ich blätterte sie rasch durch, wie immer, und eines machte mich stutzig. Ich sah es genauer an und wollte es schon zurücklegen. Lange konnte ich nicht verstehen, was ich sah. Es war plötzlich ganz still um mich, und in der Stille war nur ich. Ich sah das Foto an. Mein Körper spannte sich, ich war kampfbereit. Mir wurde schwindlig, und in meinen Ohren rauschte es dumpf, ein Summen, ein Dröhnen, als stürmte vom Horizont eine vieltausendköpfige Armee herbei, ich hörte Stimmen, Eisengeklirr, kreischende Räder, alles aus weiter Ferne. Der Zorn macht den Geist klar und scharf, auch die Sicht wird geschärft. Der Zorn nimmt alle anderen Emotionen in sich auf und beherrscht den Körper. Es besteht kein Zweifel, dass alle Weisheit aus dem Zorn entsteht, denn er ist imstande, alle Grenzen zu sprengen.

      Meine Hände zitterten, als ich die Fotos in meine Tasche steckte, und gleich darauf hörte ich, wie sich alles weiter vorwärtsbewegte, wie die Motoren der Welt ansprangen und ihre Maschinerie wieder in Gang kam – eine Tür knarrte, eine Gabel fiel zu Boden. Aus meinen Augen tropften Tränen.

      Matoga stand in der Tür.

      »Er war es nicht wert, dass du weinst.«

      Mit zusammengepressten Lippen wählte er eine Nummer.

      »Noch immer der tschechische Anbieter. Wir müssen auf den Hügel, kommst du mit?«

      Leise schlossen wir die Tür hinter uns und kämpften uns durch den Schnee. Auf dem Hügel drehte sich Matoga mit zwei Mobiltelefonen in den ausgestreckten Händen um die eigene Achse, um Empfang zu bekommen. Vor uns lag der ganze Glatzer Kessel, in silbrigen, fahlgrauen Morgendämmer getaucht.

      Matoga rief seinen Sohn an: »Hallo, habe ich dich auch nicht geweckt?« Eine unverständliche Stimme antwortete krächzend.

      »Unser Nachbar ist tot. Ich glaube, an einem Knochen erstickt.

      Heute Nacht.«

      Wieder das Krächzen am anderen Ende der Leitung.

      »Noch nicht. Ich rufe gleich an. Ich bin nicht durchgekommen. Wir haben ihn angezogen. Mit Frau Duszejko, du kennst sie, meine Nachbarin.« Er sah mich flüchtig an. »Damit er nicht starr wird, und …«

      Die krächzende Stimme klang genervt.

      »Immerhin trägt er jetzt einen Anzug …«

      Die Stimme sprach jetzt schnell und viel, Matoga hielt das Telefon vom Ohr weg und schaute es missbilligend an.

      Dann riefen wir die Polizei.

      2 Testosteron-Autismus

      »Ein Hund, der hungert vor dem Haus,

      Sagt den Ruin des Staats voraus.«

      Ich war ihm sehr dankbar, dass er mich zu sich auf ein heißes Getränk einlud. Ich fühlte mich total zerschlagen, und der Gedanke, dass ich in mein kaltes, leeres Haus zurückkehren sollte, deprimierte mich.

      Bigfoots Hündin, die seit einigen Stunden bei Matoga residierte, sprang mir zur Begrüßung entgegen. Sie erkannte mich und freute sich offenbar, mich zu sehen. Sie wedelte mit dem Schwanz und dachte ganz bestimmt nicht mehr daran, dass sie einmal vor mir davongelaufen war. Hunde sind manchmal ziemlich dumm, ähnlich wie Menschen, und diese Hündin war sicher eine von der dummen Sorte. Wir setzten uns in die Küche an den Holztisch, der so sauber war, dass man seine Wange darauf legen konnte. Das tat ich auch.

      »Du bist wohl sehr müde«, meinte Matoga.

      Alles hier war sauber und hell, warm und gemütlich. Was für ein Glück ist es im Leben, eine saubere und warme Küche sein Eigen zu nennen. Dies war mir versagt geblieben. Bei mir war es unmöglich, Ordnung zu halten. Aber ich habe mich schon damit abgefunden. Pech.

      Bevor ich mich noch umsehen konnte, stand schon ein Glas Tee vor mir. Es war in einem hübschen Metallkörbchen mit Henkel, auf einem Untersetzer. In der Zuckerdose war Würfelzucker – das erinnerte mich an die süße Zeit meiner Kindheit, und es hob tatsächlich meine jammervolle Laune.

      »Vielleicht hätten wir ihn wirklich nicht bewegen sollen?« Matoga öffnete die Tischschublade, um Löffelchen herauszuholen. Die Hündin strich um seine Beine, als wolle sie ihn nicht aus dem nächsten Umkreis ihres kleinen, mageren Körperchens herauslassen.

      »Du wirfst mich noch um«, sagte Matoga mit schroffer Zärtlichkeit. Er hatte sichtlich noch nie einen Hund gehabt und wusste nicht genau, wie man sich verhält.

      »Wie wirst du sie nennen?«,

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