SHAMROCK ALLEY - In den Gassen von New York. Ronald Malfi
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Polizisten haben einen anderen Blick auf die Docks der West Side von Manhattan als die meisten Menschen. Für sie geht es weniger um Boote und Kreuzfahrtschiffe, die in den Hafen ein- und wieder auslaufen und deren Gestank nach verbranntem Treibstoff beständig die Luft durchdringt. Für die Polizisten von New York sind die Docks ein Schatz von Hinweisen für alle möglichen Fälle, vor allem die hoffnungslosen. Die Zahl der Verbrechen, die dank der stadtweit abgeschleppten Autos aufgeklärt werden konnte, war atemberaubend. Doch so oft Fälle auf den Docks gelöst wurden, so oft nahmen sie dort auch ihren Anfang. Die Anzahl der in einem Jahr aus dem Hudson River gezogenen Leichen entsprach ungefähr der Anzahl von Homeruns, die die Yankees in einer Saison warfen.
Kersh fuhr entlang eines stacheldrahtbewehrten Metallzauns auf das mit einem Wärter besetzte Eingangstor des Abschlepphofs zu. Kurz davor ließ er sein Fernlicht zwei Mal aufblinken. Der Wärter stolzierte zum Auto, beugte sich hinunter und spähte hinein. Kersh klappte seine Dienstmarke auf und der Wärter nickte und winkte sie durch das Tor. Auf der anderen Seite standen zwei grauhaarige Männer in Uniform und sahen zu, wie das Auto vorbeirollte. Der eine hielt die Arme vor der Brust verschränkt, der andere hatte seine Hände in die Hüften gestemmt.
Hier enden Polizisten, wenn sie alt werden, dachte John und beobachtete die Männer durch sein Fenster. Abgeschleppt aus der Realität der Straßen und der Stadt zu dieser Verwahranstalt für Autos und Polizisten.
Für einen wahnsinnigen Moment dachte er an seinen Vater.
Der Platz war voll mit Autos aller möglicher Größen, Formen, Marken und Farben. Einige sahen im Mondschein neu und glänzend aus; andere schienen ebenso brüchig und glanzlos wie Knochen, überzogen mit einer Kruste aus Schmutz, Schmiere und Meersalz. Geradeaus und ein paar Schritte nach rechts stand das Bürogebäude des Abschlepphofs im Dunkeln wie vor einem schwarzen Vorhang. Warme gelbe Lichter ließen den Empfangsbereich im Inneren vergleichsweise einladend wirken. Kersh stellte den Motor ab, beide stiegen aus.
In der Nähe des Flusses war es kalt. Aus westlicher Richtung konnte John hören, wie das Wasser beruhigend gegen die Hafenpfähle schlug, während aus dem Osten immer noch der gedämpfte Lärm der Stadt herüberschwappte. Er zog den Reißverschluss seiner Lederjacke auf und folgte Kersh ins Büro, der soeben mit leichter Altstimme Beethovens »Ode an die Freude« zu summen begann.
Im Gegensatz zur Nachtluft war das Innere des Büros erstickend warm. Ein großer, hagerer Gentleman in einem Baumwollhemd stand hinter einem langen Schreibtisch. Darauf stand ein Namensschild, auf dem Kroger zu lesen war. Kroger – wenn dieser Typ tatsächlich Kroger war – blickte auf, als sie das Büro betraten, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos und seine Augen unbewegt. Mit einer Hand grub er in einer Dose schwarzer Oliven, die auf seinem Schreibtisch stand.
»Kann ich helfen?«
Wieder holte Kersh seine Dienstmarke heraus. »Special Agent Kersh, Secret Service. Das hier ist Agent Mavio. Wir brauchen Informationen über ein Auto, das vor drei Tagen auf der 41. Straße in der Nähe des Times Square abgeschleppt wurde. Vor einem Klub namens Black Box.«
»Vor drei Tagen?«, fragte Kroger und drehte sich zu einem Computerterminal auf seinem Schreibtisch um. Von seinen Fingern tropfte Olivensaft auf die Tastatur.
»Das ist korrekt.«
»Sonst irgendwelche Informationen?«, fragte Kroger. »Marke, Modell? Fahrzeug-Identifizierungsnummer? Kennzeichen vielleicht?«
»Keine Nummern. Ein älteres, großes Auto«, sagte John. Er machte seine Jacke auf, das Büro war unbequem warm. »Dunkelrot.«
»Tatsächlich, ja, hier ist es«, sagte Kroger. »Das ist das Auto.« Er leckte sich die Lippen mit seiner kleinen rosafarbenen Zunge. »Ja, der hier kam vor drei Tagen rein. Ganz sicher.«
Er hackte schneller auf die Tastatur ein. »Ein 1979er Lincoln Towncar, metallic-karminrot, cremeweißes Interieur, Kennzeichen EGA-419, New Yorker Nummernschild. Registriert auf den Namen … den Namen … Evelyn Gethers.« Kroger stieß einen Pfiff aus. »Lebt auf der Upper East Side. Ich drucke die Adresse aus.«
»Evelyn Gethers«, wiederholte Kersh leise. John sah ihn an und versuchte, den Ausdruck auf dem Gesicht des Älteren zu entziffern. Aber Kersh hatte keinen.
»Sagt dir der Name etwas?«, fragte John.
Kersh runzelte die Stirn, zog ein Paar buschige Augenbrauen hoch und zuckte mit seinen massigen Schultern. Sein weißes Hemd quoll aus der Hose. Knapp oberhalb seines Gürtels konnte John durch den Stoff des Hemdes das buntgemusterte Band von Kershs Boxershorts erkennen. Bei diesem Anblick, kontrastiert von Kershs sehr nachdenklichem Gesichtsausdruck, musste John in sich hinein grinsen.
»Und schon geht's los«, sagte Kroger. Ein Drucker im Regal hinter seinem Schreibtisch spuckte Papier aus. Kroger nahm die Informationen in Augenschein, riss dann das Papier aus dem Drucker und reichte es Kersh. Kroger, halb über den Schreibtisch gelehnt, beobachtete interessiert Kershs Gesicht.
Kersh starrte auf den Ausdruck und kaute an seiner Unterlippe. »Nun gut«, sagte er mehr zu sich selbst als zu den anderen im Raum. »Ein Loft im zweihunderter Block der 72. Straße East.«
John runzelte die Stirn. »72. Straße East? Beeindruckend. Schöne Gegend.«
»Ihrem Geburtsdatum nach ist die Dame vierundsechzig.« Kersh sah Kroger an. »Sind Sie sicher, dass es das richtige Auto ist?«
»Aber selbstverständlich«, sagte Kroger nachdrücklich.
»Sehr merkwürdig«, wunderte sich John.
»Hey, äh …« Kroger räusperte sich und blickte beide Besucher unter seinen drahtigen, pfefferfarbenen Augenbrauen heraus an. »Hat das irgendwas mit diesem Kopf zu tun?«
»Kopf?«, fragte John. Kersh sah nicht einmal zu Kroger auf. Er war noch immer mit dem Ausdruck beschäftigt.
»Der Kopf, den sie vor ein paar Tagen aus dem Fluss gezogen haben. Gleich hier neben dem Dock.«
John blinzelte. »Das ist eine gute Frage«, sagte er und musterte den Mann. »Wir werden im Büro einige Tests durchführen. Besten Dank.«
Kroger interpretierte Johns Sarkasmus als echte Anerkennung. »Ja, das ist gut. Immer wenn jemand einen Kopf im Fluss findet, brauchen alle länger für ihre Arbeit, es ist wirklich unglaublich. Über diese eine Sache quatschen dann alle in der Mittagspause, aber wir haben hier eine Menge zu tun – Sie wissen, was ich meine? Mittagspausen sind so eine Sache. Immer diese Geschichten. Ich meine, es ist doch nur ein Kopf.«
Kersh blickte auf, faltete den Ausdruck zusammen und stopfte ihn in die Gesäßtasche seiner Stoffhose. Auf seiner Oberlippe hatte sich ein Schweißfilm gebildet. »Waren Sie hier, als das Ding aufgesammelt wurde?«
»Aufgesammelt? Der Kopf?«
»Das Auto«, sagte Kersh.
»Nein.«
»Wer war hier?«
»Nein, nein«, sagte Kroger und schüttelte den Kopf, »das