Scheidung kann tödlich sein. Andrea Ross
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Meine verzweifelten Appelle an Günther, die Kinder und auch mein eigenes Seelenleben betreffend, ignorierte er weitgehend. Die einzige Reaktion war, sofort wieder zum Märtyrer zu werden und im Keller an seinem Schreibtisch zu verschwinden. Da wurde mir klar, dass alle Bemühungen meinerseits vergebens waren. Dass ich wieder einsam und alleine alles ertragen und weitermachen müsse.
Nun war ich am Überlegen, wie ich diese Ehe so schmerzlos wie möglich beenden könne, weil die Familiensituation unerträglich geworden war und ich auch meine Kinder vor einem solchen Stiefvater schützen musste. Selbst, wenn garantiert keine böse Absicht hinter seinem Verhalten steckte, er war offenbar schlicht und einfach mit der Situation überfordert.
Dann passierte etwas durch und durch Merkwürdiges, Verwirrendes, Schönes, womit ich niemals gerechnet hätte. Und dieses Etwas trug den Namen Attila. Ja, sicher, ich dachte aufgrund vorheriger Beziehungen, dass ich schon wüsste, was Liebe ist, und hielt die bisher gekannten Gefühle auch hierfür. Nun musste oder durfte ich aber erkennen, dass es doch wohl etwas anderes gewesen war. Es traf mich zu einem Zeitpunkt, an dem ich auf alles andere eingestellt gewesen wäre, aber nicht auf so etwas. Aus heiterem Himmel, sozusagen. Mit einem Menschen, der noch verheiratet war, und das auch noch mit meiner Cousine. Mehr Tabu geht eigentlich nicht. Schon immer hatte ich mich mit Attila sehr gut verstanden, wenn wir ab und zu aufeinander trafen. Ich hatte auch ein merkwürdiges Gefühl von totaler Harmonie wahrgenommen. Doch niemals wäre ich auf die Idee gekommen, er wäre für MICH. Ich besitze ein äußerst exakt funktionierendes Gewissen, schon dieses hätte alle Gedanken in diese Richtung erbarmungslos ausgefiltert.
Als wir uns dann zu einer Krisensitzung im Café del Sol trafen, um über seine weiteren Schritte bei der Scheidung von Uschi zu diskutieren (und mehr hatte wirklich keiner von uns geplant), da schlug der Blitz ein. Bumm, Gegenwehr überhaupt nicht möglich. Einerseits machte uns das etwas Angst, andererseits war es so überwältigend schön und auch unbekannt, dass sofort klar war, worum es sich hier handelte: Liebe. Die echte, bedingungslose. Die ohne Kompromisse, ohne Netz und doppelten Boden, die überaus gefährliche. Und es ging uns beiden so, ohne dass das jemand so gewollt hätte. Ich fand vor lauter Schmetterlingen im Bauch morgens nicht einmal den Weg zum Kindergarten, ich dachte, ich müsse tot umfallen, wenn ich ihn für ein paar Stunden nicht sehen oder wenigstens sprechen konnte. Dieses Gefühl schwächte sich auch nach Monaten nicht einmal um Nuancen ab, im Gegenteil. Nun wusste ich auch noch, dass die Übereinstimmung tatsächlich so absolut war, wie ich es niemals auch in kühnsten Wunschträumen für möglich gehalten hätte. Sie betraf alle, wirklich alle Bereiche. So, als wäre man schon immer zusammen gewesen, als sei dies das einzig Richtige und Beständige, was auf der Welt existierte. Mir kam unwirklich vor, dass es eine Zeit vor Attila auch nur gegeben haben könnte.
Deshalb war auch ganz schnell klar, dass wir unsere Restfamilien zusammenwürfeln mussten und unsere Altangelegenheiten zu regeln hatten. Wir hätten es beide nicht aushalten können, diese Liebe irgendwie nebenbei zu leben. Ich informierte Günther von der Situation, der nach dem ersten Schock meinte, er habe schon immer eine Art unsichtbarer Verbindung zwischen Attila und mir gespürt, wenn wir miteinander sprachen. Vermutlich war das auch so, auch wenn keiner es bewusst wahrnehmen wollte.
Selbstverständlich war mir ebenso klar wie Attila, dass uns unsere Umwelt weder unser neu gefundenes Leben, noch derartige Gefühle gönnen würde. Dass das Zusammenwürfeln von Kindern ein paar Schwierigkeiten mit sich bringen würde, genau wie Attilas laufendes Scheidungsverfahren, das mehr einem Kriegszustand glich. Dass man in den Augen von Bekannten oder Nachbarn als oberflächlich gelten wird, wenn man »schon wieder« den Partner wechselt. Wir nahmen all das in Kauf, hatten gar keine andere Möglichkeit. Machten Pläne für die Zukunft und hatten exakt dieselben Visionen, wie diese aussehen müsste. Verrückt, revoluzzerhaft und auf gar keinen Fall langweilig, vor allem aber voller Harmonie zwischen uns beiden. Mit den Kindern, ob nun viele von den insgesamt Sechsen bei uns wohnen sollten, oder nur wenige davon.
Wäre dies ein Roman, so würde sich der Leser jetzt sicherlich fragen: wenn Sie wusste, dass es schwer wird, wo ist dann jetzt das Problem gewesen? Da hätte sie halt durchgemusst, auch wenn es dicke kommt. Wieso jetzt plötzlich aufgeben? Soweit die Theorie. Liebe Familie, dies war für mich aber keine Theorie, sondern knallharte Praxis. Wir erinnern uns, ich habe immer nur eines gewollt: ein Leben in Harmonie und Frieden, in der ich mit meiner Persönlichkeit als das akzeptiert werde, was ich eben bin. Zum allerersten Mal habe ich mit Attila gespürt, dass man so etwas tatsächlich erreichen kann und habe all meine Hoffnung darauf gesetzt, jetzt endlich glücklich werden zu dürfen. All meine Hoffnung, durchaus auch in dem Wissen, dass ich in diesem Fall ALLES, einschließlich meines Lebens, verlieren werde, sollte ich scheitern.
Zunächst kamen wir mit den widrigen Umständen ganz gut zurecht. Wir teilten alle Belange des Lebens und fanden dazwischen kleine Zeitnischen, in denen wir uns gegenseitig einfach nur genießen konnten. Egal, ob es sich um Gedankenaustausch, Spaziergang oder was auch immer handelte. Gemeinsam haben wir Rücken an Rücken gegen Aggressoren gekämpft, uns Strategien überlegt und an unserer gemeinsamen Zukunft gearbeitet. Wenn einer von uns Frust oder einen kurzen Durchhänger hatte, so hat ihn der andere aufgefangen und wieder aufgerichtet, was das Verhältnis anschließend noch inniger geraten ließ.
Was ich jedoch unterschätzt habe, war der Zustand meiner Nerven, die Summe meiner noch tief in mir steckenden Verletzungen aus dem Vorleben sowie die Möglichkeiten unserer Umwelt, uns tatsächlich schaden zu können. Aber auch wenn ich es realisiert hätte, kann man Liebe ausweichen? Nein. Eben. Und mir war auch nicht in vollem Umfang bewusst, welche Rolle die Tatsache noch spielen könnte, dass es sich bei der Fast-Exfrau von Attila ausgerechnet um meine Cousine handelte. Darüber hinaus war ich mir offensichtlich nicht darüber im Klaren, mit welcher Wucht und in welcher Summe immer neue Umstände auftreten können, die ein ständiges Gegensteuern notwendig machen.
Schon diese Aufzählung klingt nicht mehr nach harmonischer Zweierbeziehung, in der an so etwas wie einer neuen Zukunft gearbeitet werden könnte. Trotzdem habe ich genau wie Attila in der Hoffnung gelebt, dass dieser Sturm irgendwann überstanden sein müsste und alle das Interesse daran verlieren würden, uns im Wege zu stehen oder vor lauter Neid und Missgunst auf uns zu schießen. Ich kann nur versuchen, die Ereignisse der letzten Wochen zu rekonstruieren, so wie ich sie aus meiner persönlichen Warte erlebt und verarbeitet habe. Dabei erwarte ich nicht, dass alle sie nachvollziehen oder gar verstehen können. Ich habe eben schon immer eine sehr feinsinnige Struktur gehabt, einen starken Gerechtigkeitssinn sowie die seltene Gabe eines Gewissens besessen. Nicht jedermann konnte die Sensible in mir entdecken, nach außen hin wirkte ich wohl mehr wie ein unzerstörbares Bollwerk, das sich seinen Weg ohne Rücksicht auf Verluste bahnte. Dabei habe ich immer jegliche Handlung vorher genauestens, einschließlich der zu erwartenden Folgen, analysiert und lieber etwas in mich hinein gefressen oder mir selber geschadet, bevor ich einem anderen Menschen wissentlich Schaden zugefügt hätte. Umso tiefer waren dann meine eigenen Verletzungen und meine Enttäuschung. Das gilt auch für das Verlassen von Ehemännern, die ich letztlich irgendwie auch von mir befreit habe, weil wir nicht wirklich zusammen passten und uns den jeweils anderen nur im Wege des Kompromisses passend dachten. Das konnte es ja nicht sein, vor allem dann nicht, wenn Kinder unter der Situation zu leiden hatten. Verdammt, oft habe ich mir gewünscht, jemand könne die Angelegenheit nur kurz durch meine Augen sehen und verstehen, in welchem Zwiespalt ich mich befand.
Ich frage euch: Welchen Grund hätte ich gerade jetzt, in dieser Ausnahmesituation, irgendetwas an meinem oder eurem Verhalten zu beschönigen? Es lohnt