Morgen kommt der Weihnachtsmann. Andreas Scheepker

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Morgen kommt der Weihnachtsmann - Andreas Scheepker

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09. Oktober 2002

      Er blieb neben der Pastorin vor dem Grab stehen. Die Träger stellten den Sarg seiner Schwester auf zwei massive Bretter über der offenen Grube. Sie trugen schwarze Überhemden.

      Dann sah er, wie eine Rose sich aus dem Blumengesteck löste und in das Grab hinunterfiel. Die sechs Sargträger nahmen ihre Prinz-Heinrich-Mützen ab und verharrten in regloser Andacht. Vermutlich zählten sie bis zwanzig oder warteten auf ein Zeichen, dass es weiterging. Das schneeweiße Beffchen der Pastorin flatterte im Wind wie ein fröhliches Fähnchen.

      Er stand dicht am Grab seiner Schwester und sah hinunter in die Grube. Auf dem Boden hatte sich Grundwasser gesammelt. Einer der Träger verneigte sich vor dem Sarg. Dann setzten die sechs Männer ihre Mützen wieder auf. Die Schwarztöne ihrer Hemden waren unterschiedlich dunkel und intensiv. Eins war schon bis zu einem hellen Grau ausgeblichen. Der Mann, der es trug, musste wohl der Dienstälteste sein. Richtig, dieser Mann gab nun durch sein Kopfnicken ein Zeichen, und die anderen zogen die Bretter weg und ließen den Sarg langsam hinunter. Wieder blieben die Träger einen Moment andachtsvoll stehen, dann stolperten sie über die aufgeschütteten Erdhaufen davon.

      Jetzt beobachtete er, wie sie in angemessener Entfernung hinter einem Busch stehen blieben und der Dienstälteste eine Zigarettenschachtel herumreichte, aus der sich jeder bediente.

      Die Pastorin begann mit dem Vaterunser. Die Anwesenden stimmten nach und nach ein. Viele waren gekommen. Er achtete gar nicht darauf, wer alles zur Beerdigung seiner Schwester erschienen war. Er erschrak, weil die Trauerfeier fast vorbei war und er auf die Worte am Grab gar nicht gehört, sondern nur die Sargträger beachtet hatte.

      Nun sprach die Pastorin den Segen und zeichnete ein Kreuz in die Luft. Wie alt mochte sie sein? Etwas jünger als er? Sie trug keinen Ehering. Vielleicht war sie geschieden. Oder es hatte sich bisher nicht ergeben … Ob er sie wohl mal zum Tee einladen durfte? Nicht als Seelsorgerin, sondern …

      Die Pastorin stand plötzlich vor ihm und reichte ihm die Hand. Ihr Händedruck war weich und kräftig zugleich. Er wartete nicht ab, bis die anderen zum Grab gingen, um ihm dann anschließend ihre Anteilnahme auszusprechen. Mit etwas zu raschen Schritten ging er davon.

      Auf dem Parkplatz blieb er einen Moment stehen. Sein Herz klopfte. Langsam stieg er in sein Auto und fuhr los. In der Stadt war wenig Verkehr; die Ferien waren längst vorbei, und während der Mittagszeit waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Er parkte beim Imbiss gegenüber vom Gymnasium und ließ sich zwei Frikadellen und eine Portion Kartoffelauflauf in Alufolie verpacken. Dann fuhr er durch die Innenstadt und bog beim alten Norder Rathaus rechts ein, um in Richtung Westermarsch und Greetsiel nach Haus zu fahren.

      Auf der Westermarscher Landstraße überholte er ein weinrotes Auto mit einem polnischen Kennzeichen. Das Auto hatte auch beim Friedhof geparkt. Im Vorbeifahren sah er, dass eine Frau am Steuer saß. Der Mann neben ihr trug eine Sonnenbrille. Das Auto fuhr langsam, als ob die beiden etwas suchten.

      Auf einmal hatte er ein mulmiges Gefühl. Zu Hause angekommen, ging er in sein Zimmer und öffnete das kleine Fach im Sekretär. Er holte das abgegriffene Schwarzweißfoto heraus und betrachtete die Gruppe von Menschen, in der Mitte seine Eltern und seine drei Schwestern. Die Jüngste lag als Baby im Arm der Mutter. Er selbst saß als kleiner Junge auf den Schultern seines Vaters. Um die Familie herum standen alle, die damals auf dem Hof gearbeitet hatten, Mägde, Knechte, Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter.

      Ganz am Rand des Fotos, an der Stalltür, war der Mann zu sehen, der so viel Kummer über ihn und die Familie gebracht hatte.

      Aus dem Fenster heraus sah er, dass ein kleines, weinrotes Auto die Einfahrt heraufkroch. War es der polnische Wagen, den er vorhin überholt hatte?

      Es klingelte an der Tür. Er hatte das Gefühl, genau zu wissen, was gleich passieren würde. Er atmete tief aus und ein, sah sich noch einmal im Garderobenspiegel an und öffnete dann die Tür. Er hatte das Foto noch in der Hand.

      Vor ihm standen eine Frau, die etwa fünfzig Jahre alt sein mochte, und ein alter Mann. Es war der Mann, der auf dem Foto in seiner Hand abgebildet war.

Sonnabend, 30. November 2002

      Weihnachtsmann

      In der Woche vor dem ersten Advent hatte eine Supermarktkette lebensgroße Weihnachtsmann-Figuren im Angebot.

      In Norden gab es auf der vielbefahrenen Norddeicher Straße ein paar Auffahrunfälle, weil einige Autofahrer erschrocken auf rotgekleidete Gestalten blickten, die auf Dächern saßen, an Balkonen hingen, sich an Dachrinnen festklammerten und an Regenrohren kletterten.

      Nachdem die Tageszeitungen im Fürstentum Ostfriesland auf ihren Titelseiten ausführlich über diese Unfälle und ihre Ursache berichtet hatten, gehörten die Weihnachtsmänner zum Alltag, und niemand schenkte ihnen noch besondere Aufmerksamkeit.

      Vielleicht achtete Johannes Fabricius an diesem dunklen Morgen deshalb nicht so genau auf den lebensgroßen Weihnachtsmann, der auf dem Norder Marktplatz an einem Baum neben dem Pavillon hing. Vor einigen Tagen war hier ein Weihnachtsmarkt mit Buden, Ständen und beheizbaren Zelten aufgebaut worden.

      Johannes Fabricius war unterwegs zu seiner Buchhandlung. Er hatte ein paar Tage wegen einer schweren Erkältung gefehlt und ahnte, dass im Geschäft ein großer Stapel unerledigter Aufgaben auf ihn wartete. Hoffentlich hatten seine Angestellten die Weihnachtsdekoration ordentlich aufgebaut.

      Jetzt stutzte Fabricius. Er blieb stehen und drehte sich um. Er betrachtete den Weihnachtsmann, der neben dem Pavillon hing, und ging langsam zu ihm zurück. Je näher er dem Weihnachtsmann kam, umso deutlicher erkannte er, dass dort keine Puppe hing, sondern ein Mann, verkleidet wie ein Weihnachtsmann mit rotem Mantel, weißem Bart und tief ins Gesicht gezogener roter Mütze. Regungslos, mit Raureif überfroren. Tot.

      Fabricius sah sich um. Die Weihnachtsbuden auf dem Marktplatz waren um diese Zeit natürlich noch geschlossen. Niemand war in der Nähe.

      Da schlug es acht Uhr vom Glockenturm, und im selben Moment gingen im Haus vor ihm die Lichter an. Es war die Praxis von Doktor Ailts.

      Die Sprechstundenhilfe füllte gerade die Kaffeemaschine, als Johannes Fabricius eintrat. Er fragte: »Ist Doktor Ailts schon da?«

      »Wir haben heute Notdienst, dann kommt der Doktor immer schon früh. Setzen Sie sich doch schon mal ins Wartezimmer, Herr Fabricius. Ich hole Sie gleich herein.«

      »Nein, ich bin nicht krank, der Doktor muss mitkommen, schnell – auf dem Markplatz hängt ein toter Weihnachtsmann!«

      »Der Tod braucht keine Eile«, brummte Doktor Ailts, der gerade aus seinem Sprechzimmer kam.

      Die Polizei, die ihr Dienstgebäude am Marktplatz hatte, war schnell herbeigeholt worden, und Doktor Ailts stellte die Tatsachen fest. Man hatte den toten Weihnachtsmann inzwischen heruntergeholt. Der Arzt kniete neben ihm. Um ihn herum bildeten einige Kriminalbeamte mit dem Team der Spurensicherung einen Ring, der den Kreis von diskret Schaulustigen in angemessener Distanz hielt.

      »Tammo Tjarksen«, teilte Doktor Ailts dem Kriminalbeamten Habbo Janssen mit, der die nur noch im Fürstentum gebräuchliche Amtsbezeichnung »Oberinspektor« führte.

      »Moin, Herr Doktor«, sagte Janssen und hockte sich neben den Arzt. »Wissen Sie, wie lange er schon tot ist?«

      »Seit ein paar Stunden. Aber nicht durch dieses Seil hier.« Der Arzt drehte mit Janssens Hilfe den Toten auf den Rücken und öffnete den roten Mantel. Er zeigte

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