Morgen kommt der Weihnachtsmann. Andreas Scheepker
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»Oder es ist der eigenartigste Selbstmord, den ich in meinem dreiunddreißigjährigen Berufsleben untersuchen musste«, bemerkte Doktor Ailts trocken.
Erinnerungen
Er saß in seinem Wagen und beobachtete, wie ein paar Männer um die Leiche im roten Kostüm hockten, während zwei Polizeibeamte in Uniform die neugierigen Passanten zum Weitergehen aufforderten. Er hatte weit genug entfernt geparkt, um unbeachtet zu bleiben.
Er musste die ganze Zeit an ein Weihnachten seiner Kindheit denken. Er mochte damals acht oder neun gewesen sein. Er sah alles auf einmal wieder deutlich vor sich.
Am Tag vor Heiligabend saß er in der Küche und las noch einmal das Gedicht, das er so sauber auf das Blatt Papier geschrieben hatte und das er schon längst auswendig konnte. In einer halben Stunde würde die Weihnachtsfeier in der alten Schule beginnen und er würde sein Gedicht aufsagen. Seine Mutter putzte die guten Schuhe, die er gleich anziehen sollte.
Auf einmal stand der Mann in der Tür.
»Frohe Weihnachten, mein Junge«, sagte der Mann, und sein verschlagener Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes ahnen.
»Frohe Weihnachten«, sagte der Junge und sah wieder auf sein Blatt.
»Ich habe eine Weihnachtsüberraschung für dich. Joke muss gleich nach Norderney fliegen, um da Medikamente hinzubringen. Die Fähre kann heute nicht rüber. Wir beide dürfen mitfliegen.« Herausfordernd sah der Mann den Jungen an.
Das Herz des Jungen klopfte. »Das geht nicht. Ich muss doch gleich bei der Weihnachtsfeier …« Er hatte Angst vor dem Fliegen, und er freute sich so auf seine Rolle beim Weihnachtsspiel. Er wusste, dass der Mann das auch wusste.
Drohend machte der Mann einen Schritt auf ihn zu. Er sprach leise und betonte jede Silbe: »Sind dir denn andere Leute wichtiger als unsere Weihnachtsüberraschung? Du bist in einer Minute im Wagen. Keine Widerworte!«
Die Mutter sah einen Augenblick auf, und dann senkte sie wieder ihren Blick. Sie stellte die Schuhe weg.
Seit einiger Zeit meldeten sich viele dieser Erinnerungen wieder, wie unliebsame und aufdringliche Bekannte aus alter Zeit.
Er drehte den Zündschlüssel um und startete den Wagen. Fast geräuschlos fuhr er los. Niemand achtete im Morgenverkehr auf ihn.
»Advent ist im Dezember«
Der Buchhändler Johannes Fabricius hatte heute besonders zeitig in seinem Geschäft sein wollen. Aber da er bei Oberinspektor Janssen zunächst seine Angaben zu Protokoll geben musste, stand er erst wenige Minuten nach neun im Eingang der Hofbuchhandlung. Fabricius ließ seinen Blick prüfend über die weihnachtlich geschmückten Schaufenster gleiten.
Im Fürstentum Ostfriesland galt es als stillos, vor dem Totensonntag weihnachtlich zu dekorieren. In diesem Jahr hatte Fürst Carl Edzard II. sich der Kampagne »Advent ist im Dezember« angeschlossen und allen Geschäften gedroht, sie von der Liste der Hoflieferanten zu streichen, wenn sich bis zum Totensonntag auch nur ein einziger Weihnachtsmann blicken oder ein Takt Jingle Bells hören ließ. Der Fürst hatte es sogar auf einen Eklat ankommen lassen, denn bei Weihnachten hörte für ihn der Spaß auf.
So war der Montag nach dem Totensonntag für viele Geschäftsleute im Fürstentum ein anstrengender Tag, weil innerhalb weniger Stunden unzählige Schaufenster und Läden gestaltet werden mussten, während gleichzeitig die Fußgängerzonen von den Bediensteten der Städte und Gemeinden ihre adventliche Dekoration erhielten.
Johannes Fabricius nickte zufrieden. Seine Angestellten hatten gute Arbeit geleistet. Im großen Schaufenster waren Szenen aus Charles Dickens’ Christmas Carrol mit Puppen dargestellt. Die Niederdeutsche Bühne in Norden würde in der Adventszeit die plattdeutsche Theaterversion dieses Weihnachtsmärchens aufführen.
Das zweite Fenster war Barbara Robinsons Buch Hilfe, die Herdmanns kommen gewidmet, das in der Adventszeit in den Norder Kirchen als Musical aufgeführt werden sollte. Im dritten Fenster schüttete der obligatorische Weihnachtsmann den obligatorischen Sack mit den wunderbarsten Büchern aus.
Skeptisch betrachtete Fabricius die große Weihnachtsmannpuppe. Tanja Becker, die Auszubildende, brachte gerade den Bart in Form.
Fabricius betrat die Buchhandlung und ging zu ihr. »Moin, Tanja. Den Weihnachtsmann nehmen Sie man schnell wieder aus dem Schaufenster, sonst kauft heute bestimmt keiner bei uns.«
Tanja dreht sich überrascht um und sah ihn mit ihren großen, blauen Augen irritiert an.
Verunsichert fragte Fabricius: »Oder wissen Sie noch gar nicht, was passiert ist?«
Adventsgesteck
»Tammo Tjarksen?«, fragte Kriminaldirektor Lothar Uphoff ungläubig und ließ den Tannenzapfen, den er aus dem Adventsgesteck der Dienststelle herausgedreht hatte, auf den Boden fallen. Er kullerte Habbo Janssen vor die Füße.
»Tammo Tjarksen«, bestätigte Janssen. Er bückte sich, tastete nach dem Zapfen und platzierte ihn in aller Gemütsruhe wieder im Gesteck.
»Ach, du lieber Himmel. Weiß der Fürst schon Bescheid?«
»Nee, Lothar, wie denn? Ich komme gerade vom Tatort und bin noch ein Stück mit Doktor Ailts gegangen. Ich habe ihm gesagt, dass unser Gerichtsmediziner sich mit ihm in Verbindung setzen wird. Und nun bin ich wieder hier.«
Habbo Janssen nahm die Streichhölzer vom Tisch und zündete die Kerze auf dem Gesteck an. Dann holte er einen winzigen Notizblock aus seiner Tasche, auf dessen Blättern alles in mikroskopisch kleinen Buchstaben notiert war.
Während Janssen in aller Ausführlichkeit berichtete, drehte Uphoff drei Fliegenpilze aus der Dekoration. Dann öffnete er mit dem abgebrannten Streichholz den Kerzenmantel in Höhe des brennenden Dochtes, und das flüssige Wachs ergoss sich in das Gesteck. Während dieser Prozedur hörte der Kriminaldirektor konzentriert zu und stellte kurze, präzise Fragen, auf die Janssen genau so kurz und präzise antwortete.
»In Ordnung, Habbo. Du schreibst den Bericht, und ich informiere den Fürsten. Gerrit kommt heute Vormittag etwas später. Wenn er da ist, bringst du ihn auf den neuesten Stand. Ihr beide übernehmt den Fall. Auch vor meinem Gespräch mit dem Fürsten kann ich schon eine Ansage machen: Bitte die höchste Beschleunigungsstufe! Sonst ist ein Skandal im Anmarsch.«
Zimtsterne
»Tammo Tjarksen?« Fürst Carl Edzard II. von Ostfriesland war sichtlich erschrocken. Er brauchte einen Moment, um sich zu fassen.
»Ja«, bestätigte Kriminaldirektor Uphoff, »Tammo Tjarksen wurde heute früh gefunden. Tot. Er muss in der Nacht aus nächster Nähe erschossen worden sein. Der Arzt sagte, dass Tjarksen sofort tot gewesen sein muss, und dass ihn sein Mörder oder jemand anders dann an einen Baum neben dem Pavillon gehängt hat. Mehr wissen wir noch nicht.«
»Ich lasse sofort meine Vormittagstermine verschieben und bestelle uns Kaffee«, sagte der Fürst entschieden. »Ich bin gleich wieder da.«
Vermutlich wollte er einen Moment allein sein, um das Gehörte zu verarbeiten. Als Carl Edzard zurückkehrte, hatte