Das Haus in den Dünen. Ulrich Hefner

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Das Haus in den Dünen - Ulrich Hefner

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      Die Taschen wogen schwer. Es war Freitag, der Nachmittag war angebrochen und Regenwolken lagen über der Stadt. Früher war sie öfter in die Stadt gegangen, doch in der letzten Zeit empfand sie eine tiefe Müdigkeit und musste sich zwingen, den beschwerlichen Weg auf sich zu nehmen. In einer Stunde würde Veronika in die kleine Dreizimmerwohnung im Osten der Stadt zurückkommen, und Veronika würde hungrig sein. So wie immer, wenn sie nach ihrer harten Arbeit nach Hause kam. Und nach dem Essen würde Veronika auf ihrem Zimmer verschwinden, sich auf das Bett legen und den kleinen Fernseher einschalten. Das hatte sie sich verdient, schließ­lich ernährte sie die Familie oder das, was von ihr übrig geblieben war.

      Paps lag schon seit Jahren in seinem kühlen Grab auf dem Westfriedhof und ruhte sich von einem harten und arbeitsreichen Leben aus. Und Thomas lag nicht weit entfernt davon. Der arme Junge, viel zu früh aus dem Leben gerissen.

      Ein Verkehrsunfall, hatte die Polizei damals gesagt. Er war auf gerader Strecke mit seinem Wagen von der Fahrbahn abgekommen und hatte einen Brückenpfeiler gerammt. Der Wagen war in Flammen aufgegangen. Die Polizisten waren in Begleitung eines Pfarrers gekommen und hatten versucht, Trost zu spenden. Und wissen wollen, was für ein Leben Thomas geführt hatte, ob es Probleme gegeben und ob er Tabletten genommen hatte. Unter Tränen hatte sie den Kopf geschüttelt. Es war ihr nicht schwergefallen, überrascht und fassungslos zu wirken. Auch wenn man eigentlich weiß, was geschehen wird, ist es erschütternd, wenn die Vorahnung von der Wirklichkeit eingeholt wird. Denn von diesem Zeitpunkt an ist alles Hoffen und Beten vergebens.

      Die Polizisten hatten sich in seinem Zimmer umgeschaut. Ein aufgeräumtes Zimmer. Thomas hatte Schlamperei gehasst und war mit seinen Sachen stets penibel umgegangen. Sie hatten den Brief nicht gefunden, wie auch. Er war längst in der Schublade des Wohnzimmerschrankes verschwunden. Dort lag er noch heute. Sie hatte ihn nie mehr hervorgeholt.

      Jetzt waren sie nur noch zu dritt.

      Sie überquerte die Fahrbahn und ging den Gehweg der Frankfurter Straße entlang. Die Stofftaschen wogen immer schwerer. Sie atmete tief. Schließlich brachen die Wolken und der Regen ergoss sich über die Stadt. Jetzt hätte sie den Schirm gut gebrauchen können, den ihr Veronika, ihre Tochter, vor einer Woche mitgebracht hatte. Ein Werbegeschenk, hatte sie gesagt. Veronika brachte oft Dinge mit nach Hause, die ihr von einem Vertreter geschenkt worden waren. Die Werbeaufdrucke störten nicht weiter, die Funktionalität stand im Vordergrund. Und wenn es umsonst war, umso besser. So dachte die alte Frau nun mal. Sie gehörte einer Generation an, die noch den Kampf ums Überleben führen musste. Während des Krieges hatte sie oft genug gehungert und wäre froh gewesen, wenn ihr jemand ein Stück Brot zugesteckt hätte. Doch das war ein ganzes Leben her. Ihre Generation starb langsam aus und die jungen Leute von heute wussten nicht, wie es ist, wenn man hungert und wenn man friert.

      Sie hatte den leichten Anstieg hinter sich gebracht und ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Bestimmt würde Veronika wieder mit ihr schimpfen, weil sie so viel eingekauft und nun so schwer zu tragen hatte. Trotzdem würde sie sich auch am nächsten Freitag wieder auf den Weg machen. Sie hasste die großen Supermärkte, in denen sich die Menschen zwischen den Regalen anrempelten. Diese Menschentrauben, die sich rücksichtslos durch die Gänge wälzten und lange Schlangen vor den Discounterkassen bildeten. Sie kaufte in dem kleinen Laden unten in der Stadt. Da konnte sie in Ruhe aussuchen und überdies auch noch ein kleines Schwätzchen halten.

      Ach, wenn doch Veronika nur einen Mann gefunden, geheiratet und Kinder bekommen hätte, so wie es sich für eine junge Frau gehörte! Dann würde sie jetzt mit den Enkeln spielen können und alles wäre um so vieles einfacher.

      Aber zu Hause, im Zimmer, vor dem Fernseher, würde Veronika nie einen Mann finden. Sie bemühte sich ja nicht einmal.

      Der Regen nahm zu, doch es war ein warmer und angenehmer Sommerregen, der ihr Kopftuch durchnässte. Zu Hause würde sie sich einen Tee kochen und ihre Haare abtrocknen. Sie hatte noch ein wenig Zeit.

      An der nächsten Straßenecke verschnaufte sie eine kurze Weile, ehe sie auf die Straße trat. Plötzlich ertönte ein lautes Hupen. Reifen quietschten. Ihr blieb keine Zeit mehr für den Schreck, noch nicht einmal den Schmerz nahm sie wahr, als ihr Körper unter dem Lastwagen verschwand. Ihr letzter Ge­dan­ke galt Lucia, ihrer weiteren Tochter. Dann überkam sie eine tiefe Schwärze.

      *

      »Sie musste nicht leiden, sie war sofort tot«, sagte der Polizist und bemühte sich, seiner Stimme ein gehöriges Maß an Anteilnahme zu verleihen. Fassungslos blickte Veronika auf das Foto des Ausweises, der vor ihr auf dem Tisch lag.

      »Wir könnten einen Pfarrer …«

      »Nein!«, wehrte Veronika vehement ab. »Ich brauche niemand.«

      Sie hatte keine Tränen. Sie wusste, dass sie nüchtern und gefasst wirkte, wenngleich sie innerlich auch zitterte und bebte.

      Und dabei hätte ihre Mutter gar nicht in die Stadt zum Einkaufen gehen müssen. Wie oft hatte sie ihr schon gesagt, dass sie warten sollte. Der nächste Supermarkt war nicht einmal fünf Fahrminuten von der Wohnung entfernt.

      »Ich werde Sie jetzt alleine lassen«, sagte der Polizist. »Soll ich wirklich niemand rufen lassen? Verwandte, Bekannte, einen Arzt?«

      Veronika schüttelte den Kopf. Der Polizist erhob sich und legte eine Visitenkarte auf den Tisch. »Falls Sie noch Fragen haben.«

      Sie versuchte ein Lächeln, das ihr jedoch gründlich misslang.

      Nachdem der Polizist gegangen war, verließ auch sie die Wohnung. Das leise Stöhnen aus dem Zimmer neben dem Bad nahm sie dabei nicht wahr.

      Mit einer Taschenlampe bewaffnet ging sie in den Keller hin­un­ter. Ein modriger Geruch schlug ihr entgegen, als sie die Tür öffnete. Das schummrige Licht erhellte den in mehrere Parzellen unterteilten Raum nur unzulänglich. Die Holzgittertüren waren mit Bügelschlössern gesichert, die Verschläge vollgepfropft mit allerlei Kram aus dem Leben der Hausbewohner. Spielsachen aus der Kindheit, Fotoalben aus der Jugendzeit, Liebesbriefe längst vergessener Verehrer, Tagebücher mit all den Hochs und Tiefs einer rastlosen und längst vergangenen Zeit. Dinge, die nicht mehr gebraucht wurden, die zu Geschichte geworden waren, zu wertvoll, um sie einfach wegzuwerfen.

      Vor der Holzgittertür mit der Nummer 4 blieb sie stehen. Sie öffnete das Bügelschloss. Knarrend und ächzend schwang die Tür auf. Es war Jahre her, dass sie das letzte Mal hier unten gewesen war. Staub bedeckte die Regale. Das Licht blieb draußen zurück. Im Schein der Taschenlampe suchte sie den Verschlag ab. Im Lichtkegel erschienen zwei Kartons, einer schmutzig weiß, der andere rot wie Blut. Veronika schob den Deckel des roten auf. Sie musste eine Weile im Karton suchen, ehe ihr das kleine lederne Buch mit dem rot eingefassten Buchrücken in die Hände fiel.

      Der Staub der Vergangenheit war bis in die feinsten Ritzen vorgedrungen, sogar das kleine Tagebuch war nicht davon verschont geblieben.

      1

      Wilhelmshaven, 22. August 2000:

      Dichter weißer Qualm stieg in den blauen Morgenhimmel über dem Südwestkai. Die letzten Flammen verendeten in einem Schwall aus Wasser und Gischt. Nach vier Stunden war der Brand gelöscht, der die Feuerwehrmänner in Atem gehalten hatte. Es war fünf Uhr und bald würde auch abseits des Hafens, wo die Menschen in dieser Nacht keine Ruhe hatten finden können, die Stadt wieder zum Leben erwachen. Monika Sander warf ihrem Kollegen Dietmar einen erleichterten Blick zu und griff nach ihrer Schreibkladde, die sie auf die Motorhaube des Dienstwagens gelegt hatte.

      »Hast du Kleinschmidt irgendwo

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