Das Erbe des Bierzauberers. Günther Thömmes
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Die Keime von Reformation und Revolution, für die späteren Bauernkriege sowie den noch späteren Dreißigjährigen Krieg wurden in diesen Jahren gelegt.
Und während in Norditalien Architektur und Kunst in einem Rausch aus Farben und Formen förmlich explodierten, wurden weite Teile Deutschlands immer noch von der simplen Geometrie des Fachwerkbaus beherrscht. Ein größerer Kontrast zur kühnen Domkuppel von Florenz war kaum vorstellbar.
Dennoch, gefördert durch die Erfindungen des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, Entdeckungen der großen Seefahrernationen und neue Erfindungen von Menschen vom Schlage eines Leonardo da Vinci, trieben Aufklärung, Renaissance und Reformation auch in Deutschland bereits zarte Blüten.
So also sah es in Mitteleuropa aus, als unsere Geschichte ihren Fortgang nahm.
DIE ERBEN DES BIERZAUBERERS
Georg
Das Beginenhaus in der Hollensammlung, in unmittelbarer Nähe der Reutlinger Marienkirche, stand schon seit beinahe 100 Jahren. Immer mehr Frauen suchten Zuflucht in der halb laienhaften, halb religiösen Gemeinschaft, zu der Männer nicht zugelassen waren. Die Beginen gehörten keinem Orden an und führten kein klösterliches Leben. Die Erfüllung, die sie suchten, beschrieben sie selbst als den ›mittleren Weg‹. Ihre Vorbilder waren Frauen wie die Heilige Johanna von Orleans, die ein heiliges Leben geführt hatte, ohne je einem Orden angehört zu haben. Zwar hatten sie Regeln, die denen eines Ordens ähnelten, wer aber mit den Grundregeln der Bescheidenheit, Keuschheit und des Fleißes nicht zurande kam, konnte jederzeit ohne Folgen wieder austreten.
Als die 25-jährige Begine Gerlinde am 23. April 1458 vor die Tür trat und dort ein abgelegtes Bündel Mensch fand, das nach Kräften schrie und strampelte, war sie nicht überrascht. Es kam häufiger vor, dass junge Mütter ihre meist unehelich geborenen Kinder vor einem Beginenhaus ablegten. Die Waisenkinder wurden dort einige Jahre erzogen und durchgefüttert, bis sie alt genug waren, um irgendwo arbeiten zu können. Dies geschah, wenn die Findelkinder Glück hatten; wenn sie Pech hatten und nicht bei Beginen, Klöstern oder sonstigen wohlmeinenden Menschen abgelegt wurden, blühte den Kindern die Hölle auf Erden. Völlig rechtlos, wurden sie oft in die Sklaverei verkauft oder als leibeigene Knechte, Tieren gleich, auf Bauernhöfen gehalten.
Gerlinde nahm das Bündel vom Boden auf und schaute hinein. Ein kleines Jungengesicht, verheult und verrotzt, mit graugrünen Augen unter einem rötlich-braunen Schopf, sah ihr entgegen. Das Kind war kein Neugeborenes mehr, aber älter als drei Monate war es auch nicht.
»Na, dann werde ich dich mal mitnehmen, kleiner Mann«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Bündel. »Du bist sicher hungrig und durstig.«
Die Namensgebung war leicht, nach dem Tag des Fundes, an dem Papst Georg VII. seinen Namenstag feierte, wurde der Kleine ›Georg‹ genannt und auch gleich getauft.
Gerlinde hatte vor Kurzem von einer anderen Begine, die, da wohlhabend, in jüngeren Jahren viel gereist war und bei einem ihrer letzten Besuche in Reutlingen bei ihnen übernachtet hatte, gehört, dass Findelkinder in südlichen Ländern meist den Nachnamen ›Esposito‹ – ›Ausgesetzt‹ – erhielten, also schlug sie dies auch hier vor. Als Geburtstag für Georg Esposito wurde denn auch der 23. April 1458 ins Hausbuch der Beginen eingetragen.
Nachforschungen nach der Mutter wurden in diesen Findelkindfällen selten angestellt; wenn niemand zufällig etwas gesehen hatte, beließ man es in der Regel dabei, dass die Mutter ihr Kind nicht haben wollte. Die Beginen waren froh, wenn die Mutter es nicht tötete oder im Wald aussetzte.
Die Art des Zusammenlebens der Beginen, eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, war ideal für die Aufzucht von Waisen- und Findelkindern. In Gerlindes Haus lebten derzeit acht Frauen, von denen die älteste mit Namen Hildegard die ›Mutter‹ oder ›Meisterin‹ war. Angeredet wurde sie aber mit ihrem gewöhnlichen Namen. Hildegard teilte ein, dass Gerlinde verantwortlich für Georg war und alle anderen nach Kräften mithelfen sollten. Es gab noch ein zweites Kind im Haus, ein Waisenkind mit Namen Peter, das aber bald weggehen musste, weil es mit zehn Jahren arbeitsfähig war und auf sich selber achtgeben konnte.
Die anderen Frauen kümmerten sich hauptsächlich um Alte und Kranke, machten Hausbesuche und besorgten die Gartenarbeit. Eine von ihnen klöppelte Spitzen für feine Gewänder, was ihnen etwas Geld einbrachte. Ansonsten waren sie auf Förderung durch adelige Frauen angewiesen, von denen es aber zum Glück mehr gab, als die meisten annahmen.
Seitdem die Bewegung der Beginen stark zugenommen und sich von Flandern aus bis nach Süddeutschland verbreitet hatte, wurde sie von der Kirche argwöhnisch beäugt. Ihre Weigerung, sich als Orden zu betrachten und somit von der Kirche kontrollieren zu lassen, war vielen Klerikern ein Dorn im Auge. Häufig waren es die gleichen Kleriker, deren Sittenlosigkeit und Habsucht von den Beginen angeprangert wurden. Und nachdem die Frauen begonnen hatten, Schriften der Kirche aus dem Lateinischen in die Sprache des Volkes zu übersetzen, war das Fass kurz vor dem Überlaufen. Es war nur noch eine Frage der Zeit – sollte es so weitergehen, würde sich die Heilige Inquisition der Beginen annehmen.
All dies war Gerlinde völlig gleichgültig, als sie sich in den ersten Wochen um den kleinen Georg kümmerte. Der hatte es wahrhaft gut getroffen, er wurde regelmäßig gefüttert – dank einer Amme, die Gerlinde gleich aufgetrieben hatte, wurde regelmäßig gewaschen und gewickelt. Von seiner Ziehmutter wurde er mit Zärtlichkeiten und Streicheleinheiten versorgt, die ein Findelkind ansonsten niemals hätte erwarten können. Gerlinde war nur mäßig hübsch, aber von ausgeglichenem, sonnigem Charakter, dazu dank eines, wenn auch geringen, Erbes nicht völlig unvermögend, was ihr die Aufnahme ins Beginenhaus erleichtert hatte. So hatte sie für ihr Findelkind immer wieder überraschende kleine Geschenke oder Naschereien bereit, auch ohne Anlass. Aber nicht nur Gerlinde, alle Frauen des Hauses hatten den kleinen Mann sehr bald ins Herz geschlossen.
Nach zwei Jahren machte er bereits Haus und Garten unsicher, die nächsten Jahre tobte er auf der Straße mit den anderen Kindern herum, er war arm wie die meisten Beginen, aber rundherum glücklich. Gerlinde lehrte ihn Sprechen, besonderen Wert legte sie auf seinen Namen, und alle lachten, wenn das Kind, laut ›Georggeorg Espositototo‹ rufend durch die Gegend tollte. Sie wurde auch nicht müde, ihm immer wieder zu bestätigen, welches Glück er gehabt habe und welches Schicksal ihm im Findelhaus oder anderswo geblüht hätte. Die Sommersprossen, die sich auf seinem Babygesicht beinah verschämt versteckt hatten und kaum sichtbar gewesen waren, waren mittlerweile voll erblüht. Nase und Backen waren voller Punkte, die besonders gut zu seinem Lachen passten. Wenn jemand Freude in die Hollensammlung brachte, dann war es Georg. Bei seinem Haarschopf hatte ein dunkles Rot den Braunton der ersten Monate vollständig verdrängt, ebenso wie Grün, nachdem er kein Baby mehr war, eindeutig seine Augenfarbe war. Diese Kennzeichen waren so augenfällig, dass alle Frauen im Beginenhaus sicher waren, dass er der Sohn, wahrscheinlich sogar der Bastard eines der häufig durchreisenden Händler, Spielmänner oder Boten war, die Reutlingen als Durchgangsstation benutzten.
»Niemand hier in Reutlingen hat rote Haare, Sommersprossen und grüne Augen«, war denn auch die einhellige Meinung der anderen Kinder, mit denen Georg manchmal spielte, aber ebenso oft wegen ebendieses Spottes aneinandergeriet. Ihm selbst, ständig verdreckt von seinen diversen Abenteuern, mit Schürfwunden an Armen und Beinen, wenn er vom Baum gefallen war oder mit einem