Das Erbe des Bierzauberers. Günther Thömmes
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Kurz nach seinem sechsten Geburtstag, oder vielmehr dem Tag, an dem er gefunden worden war, ereignete sich die zweite Katastrophe seines Lebens. Georg spielte wie üblich auf der Straße, als eine Kutsche vorfuhr, der ein groß gewachsener Mann in einer schwarzen Soutane entstieg. Georg kannte natürlich nicht den Unterschied der verschiedenen Gewänder des Klerus, er ahnte jedoch, dass dies ein Mann hohen Ranges war. Mit grimmigem Gesicht wartete dieser, bis der ihm zu Fuß folgende Trupp Stadtsoldaten bei ihm angelangt war. Dann klopften sie alle laut und vernehmlich an die Tür des Beginenhauses und verlangten Zutritt. Die Tür wurde geöffnet und gleich nach Eintritt der Besucher wieder geschlossen. Georg kämpfte mit seiner Neugierde, hinüberzugehen, schließlich aber siegte die Angst. Er hockte sich in eine Häuserecke, von der aus er gute Sicht zu seinem Haus hatte. Geschrei kam aus dem Haus, gefolgt von Gepolter und Lärm. Derbe männliche Flüche, als es sich so anhörte, als fiele jemand eine Treppe herunter. Dann herrschte Ruhe.
Etwa zehn Minuten dauerte der Spuk.
Schließlich öffnete sich wieder die Vordertür, die Soldaten und der Priester traten heraus und führten alle Frauen des Hauses mit sich. Einige weinten, Gerlinde war darunter, das Gesicht unter einer Haube verborgen. Hildegard hielt ihren Kopf hoch, den verbissenen, tränenlosen Blick voller Hass auf den Priester gerichtet. Dieser bestieg seine Kutsche und gab das Kommando zur Abfahrt. Der Hauptmann der Soldaten zündete eine Kerze an, befestigte etwas an der Tür, verschloss diese, blies die Kerze wieder aus und marschierte mit seinen Soldaten davon, in ihrer Mitte führten sie die Frauen mit. Als alle weg waren, ging Georg vorsichtig zur Tür und schaute sich das Siegel an, welches der Hauptmann mit Wachs dort hingeklebt hatte. Hätte er lesen können, hätte er Folgendes gelesen:
›Auf Anordnung des Magistrats der Stadt Reutlingen und auf Wunsch der Heiligen Mutter Kirche und ihrer Heiligen Inquisition wurde beschlossen, die Bewohner dieses Hauses einer Befragung zu unterziehen, um antichristliche Umtriebe zu untersuchen. Bis zur Rückkehr der Bewohner bleibt dieses Haus verschlossen und darf ohne Anordnung nicht betreten werden.‹
Georg wartete den Rest des Tages und die ganze folgende Nacht vor dem Haus auf die Rückkehr der Beginen. Am nächsten Morgen hatte er sich unter Tränen damit abgefunden, dass er, obwohl erst sechs Jahre alt, bereits zum zweiten Male zum Waisenkind geworden war.
Ziellos lief er durch die Gassen von Reutlingen. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte, und fühlte sich von Gott und der Welt verlassen. So klein er war, er wusste instinktiv, dass er keinen Büttel oder eine andere ›offizielle‹ Person ansprechen sollte. Zu heftig war die Abneigung, die er bei Gerlinde immer verspürt hatte, wenn vom Magistrat und Behörden die Rede war. Er ahnte, was ihn im Waisenhaus erwartete, wenn ihn jemand auf der Straße auflas.
Also versteckte er sich immer, sobald er einen Menschen sah, dem er das Attribut ›ehrenwert‹ verpassen würde. Er schlich zum Stadttor und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Als er einen Karren erblickte, neben dem ein alter Mann herging, der so damit beschäftigt war, seinen Esel zu beschimpfen, dass er alles andere um sich herum nicht mehr wahrnahm, tat er, als ob er dazugehöre. Die Torwächter übersahen den kleinen Jungen, und so fand er sich bald außerhalb von Reutlingen auf der belebten, aber verdreckten und nach einem Platzregen sehr schlammigen Landstraße wieder.
Er wanderte gemächlich und ohne Ziel Richtung Westen, er wusste nicht wohin, also überließ er alles dem Zufall. Er schlief in Heuschobern oder im freien Feld. Nach ein paar Tagen stibitzte er eine Decke von einem Karren herunter, der ihn passierte. Ab da konnte er auch im Wald übernachten, wo er vor Entdeckung am sichersten war. Manchmal erbettelte er sich etwas zu beißen, meist stahl er es sich zusammen. Er brauchte nicht viel. In der zweiten Woche seiner Wanderung nach nirgendwo lief ihm ein kleiner herrenloser Hund über den Weg. Die beiden freundeten sich schnell an, und fortan liefen sie zu zweit. Georg fühlte sich sicherer mit seinem neuen vierbeinigen Begleiter, dem er trotz seiner kleinen Erscheinung den Namen ›Fafnir‹ gab. Gerlinde hatte ihm zur guten Nacht gerne alte Geschichten erzählt, in denen auch ein Lindwurm dieses Namens vorgekommen war. Und mit einem Lindwurm als Begleiter, da würde ihm niemand etwas zuleide tun wollen!
Sie mieden Menschen, wo sie konnten, was auf den Wegen, auf denen sie jetzt unterwegs waren, recht einfach war. Es herrschte wenig Verkehr, und man sah bereits von Weitem, wenn sich jemand aus der Gegenrichtung näherte.
Eines Tages, Georg wusste nicht mehr, seit wie vielen Wochen er bereits unterwegs war, stolperte er, während er hinter Fafnir herlief. Er fiel hin und schlug sich das Knie auf. Während er weinend und blutend am Wegesrand saß und Fafnir ihn tröstend abschleckte, kam ein Karren daher, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Überbordend beladen, an allen Seiten hingen klappernde und scheppernde Gerätschaften herunter, machte er einen solchen Lärm, dass Georg für einen Moment seine Schmerzen vergaß und den Mann anschaute, der auf dem Kutschbock saß.
»Was ist geschehen?«, fragte dieser, hielt an und stieg herunter. Ein klein gewachsener Mann stand vor ihm, nicht mehr der Jüngste. In seiner Leibesmitte wölbte sich ein kugelrunder Bauch, der ihm den Abstieg vom Karren nicht gerade erleichtert hatte. Vorne bereits glatzköpfig, hatte er sich die letzten verbliebenen Haare hinten lang wachsen lassen und zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Dunkle, vertrauenerweckende Augen sahen hinunter auf den kleinen weinenden Rotschopf. Der Mann, der roch, als sei er schon länger unterwegs, ohne sich zu waschen, war von Berufs wegen den Kummer anderer Menschen gewohnt. Mit einem Blick hatte er das Missgeschick des Jungen erfasst und lachte.
»Da hast du aber Glück, dass du auf einen Bader wie mich getroffen bist.«
Er nahm eine Handvoll Kräuter, wickelte sie in ein Tuch und knotete dieses um Georgs Knie. »Das wird die Blutung stoppen und den Schmerz lindern. Wohin seid ihr beiden eigentlich unterwegs, so ganz allein?«
Georg wurde misstrauisch, diese Frage mochte er nicht. Dennoch, und weil das Gesicht des Baders in ihm keinen Argwohn erregte, antwortete er.
»Ich weiß nicht, wir suchen einfach nur einen Platz, wo wir leben können, ohne dass ich ins Findelhaus komme.«
Der Bader wackelte mit dem Kopf und hielt seine Arme verschränkt, sodass sie auf seinem Kugelbauch auflagen.
»Das ist gar nicht gut, die Straßen sind viel zu gefährlich für einen kleinen Jungen wie dich. Und wenn du nicht weißt, wo du hin willst, wirst du nicht lange überleben.«
Der Kopf wackelte weiter, es schien eine Angewohnheit des Baders zu sein.
»Warum kommst du nicht mit mir?«, sagte der Bader. »Mein Name ist Michel, und ich ziehe durch die Lande und biete allen meine Dienste an, die sie brauchen können. Wenn du Lust hast, kannst du mein Gehilfe werden. Für deinen Hund haben wir auch Platz.«
»Ich heiße Georg Esposito, und das ist Fafnir.« Michel lachte, als er den furchterregenden Namen hörte, und streichelte dem Hund über den Kopf. »Wir kommen aus Reutlingen«, fuhr Georg fort und deutete mit der rechten Hand auf sich selbst und Fafnir.
»Mir ist aber gleich, wo wir hingehen, solange es nicht dorthin zurückgeht.«
»Keine Sorge, das liegt im Moment nicht auf meinem Weg. Wir gehen genau in die andere Richtung.«
Gesagt, getan. Georg kletterte auf den Karren des Baders, Fafnir wurde nach mehreren vergeblichen Versuchen hinaufzuspringen von diesem lachend hinaufgehoben. Der Schmerz war vergessen, jetzt konnte er endlich einmal im Sitzen reisen!
Michel war ein guter Reiseleiter, er hatte es nicht eilig und erzählte immerzu Geschichten. Von Dingen, die er auf seinen Reisen erlebt hatte, Geschichten, die ihm andere erzählt hatten, oder althergebrachte Sagen und Märchen. Georg war zu jung, um zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden,