Tannenruh. Willi Keller

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Tannenruh - Willi Keller

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Als sie am Hotel ankamen, zeigte sich, dass an einen Spaziergang rund um den See bei dieser ersten Begegnung nicht zu denken war, auch wenn das die Pläne des Historikers durchkreuzte. An einigen Stellen war der Weg noch zu sehr vereist. Ob er sich in seiner Kindheit auch an diesem See aufgehalten hatte?

      Im Hotel am See setzten sie sich in eine ruhige Ecke mit Sicht auf alles im Raum. Nur langsam kam ein Gespräch in Gang. Das lag nicht an der Sprache. Sie unterhielten sich auf Deutsch. Der Historiker war auffallend nervös. Ständig rührte er mit dem Löffel in der Kaffeetasse, obwohl er keinen Zucker und keine Milch genommen hatte. Die Nervosität übertrug sich auf ihn. Er war froh, als der junge Mann sagte, sie müssten jetzt aufbrechen, sonst schafften sie den Weg zu ihrem Ziel nicht mehr. Vielleicht wäre der Heimatforscher offener gewesen, wenn er ihm gesagt hätte, wer er in Wirklichkeit war. Nachdem sie das Hotel verlassen hatten und wieder zum »Schatzhauser« zurückgekehrt waren, hatte ihn der Historiker zu der kleinen Siedlung geführt. Ohne fremde Hilfe hätte er diesen schmalen Pfad nicht gefunden, obwohl er in der Nähe des Hotels begann. Seither war er immer wieder hierhergekommen.

      Bei ihrem bevorstehenden Treffen musste er sich zu erkennen geben und alles offenbaren. Sonst würde er nichts mehr erfahren. Wahrscheinlich hatte sich der Historiker schon Gedanken über seine Identität gemacht und eins und eins zusammengezählt. Das Versteckspiel hatte ihm nicht viel gebracht.

      So oft er hier nach seiner Vergangenheit suchte, sah er nur vier zerfallene Häuser. Aus der Entfernung wirkte die Siedlung wie ein verfaultes Gebiss mit wenigen Zahnstümpfen. Das erste Gebäude, das größte, war sein Elternhaus. Das Dach war eingestürzt, die Fenster waren schon lange zerstört. Aus der Ruine wuchsen Büsche und ein Baum. Bei seinem zweiten Besuch hatte er versucht, in das Haus zu kommen. Aber er hatte schnell aufgegeben, als irgendetwas im Gebäude mit einem lauten Knall zusammengebrochen war. Die anderen Häuser sahen nicht viel besser aus. Bei jedem Gang zu seiner Vergangenheit erkundete er auch das Sägewerk hinter den Häusern und den kleinen Friedhof, der sich in der Nähe befand. Dort lag seine Familie begraben. Der Friedhof war überwuchert. Gräser, niedriges Buschwerk und Efeu bedeckten den in mehrere Teile zerbrochenen großen Grabstein. Die Namen seiner Familienangehörigen konnte er nicht mehr entziffern. Vor langer Zeit war offensichtlich ein Baum auf den Grabstein gestürzt und hatte ihn umgeworfen. Nur noch wenige Spuren deuteten darauf hin – der Baum hatte sich größtenteils aufgelöst, wie die Siedlung, die in Namen- und Erinnerungslosigkeit zerfiel. Offenbar hatte niemand Interesse daran, sie dem Verschwinden zu entreißen. Aber warum? Mit jedem Tag, mit jedem Besuch dieses versinkenden Ortes vermehrten sich die Fragen.

      Auf dem Weg zum Hotel fiel ihm der Tag seiner Ankunft ein, in allen Einzelheiten.

      »Sie sind der Gast aus Argentinien?«

      Was für eine Frage! Er nickte. Ja, er war der Gast aus Argentinien.

      »Sprechen Sie Englisch?«

      »Sie können deutsch mit mir reden.« Er spürte die Erleichterung des Mannes an der Rezeption.

      »Das Hotel Schatzhauser heißt Sie herzlich willkommen. Wir wünschen Ihnen einen guten Aufenthalt. Um Ihr Gepäck werden wir uns gleich kümmern. Wenn Sie bitte noch unseren Meldezettel ausfüllen wollen.«

      Es war der übliche Empfang in einem Hotel, wie er ihn oft erlebt hatte. Aufgesetzte Freundlichkeit und Standardsätze. Ein zielgerichteter, wirtschaftlicher Umgang mit Sprache. Der Anmeldeschein wurde ihm hingeschoben. Vorname: Gustavo Alejandro Pedro. Nachname: Borges. Lüge Nummer eins: Borges war nicht sein richtiger Geburtsname. Er hatte mehrere Namen: seinen deutschen Geburtsnamen, seinen argentinischen Namen, ein Pseudonym, das er selten benutzte, und einen Künstlernamen. Geburtsdatum: 8.3.1939. Geburtsort: Buenos Aires. Lüge Nummer zwei. Seine große Lebenslüge: Die Hauptstadt Argentiniens war nicht sein Geburtsort. Staatsangehörigkeit: argentinisch. Keine Lüge, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Seine Staatsangehörigkeit war nicht immer argentinisch gewesen. Doch zu seinem Glück fragte nie jemand nach seiner Vergangenheit. Wahrscheinlich wäre auch niemand auf die Idee gekommen, dass er kein gebürtiger Argentinier war. Er hatte sich in der argentinischen Kultur entfaltet, sprach akzentfrei die Landessprache. Auch seine Hautfarbe ließ nicht auf eine mitteleuropäische Abstammung schließen. Und schon gar nicht sein Name, den er in den Anmeldeschein eingetragen hatte. So musste er sich mit niemandem über seine geheimnisvolle Vergangenheit unterhalten, aus der nichts auftauchte, zu der er keinen Zugang fand. Das Ausfüllen von Formularen und Meldescheinen erinnerte ihn jedes Mal an seine Lebenslügen, mit denen er sich mehr oder weniger arrangiert hatte.

      Wortlos schob Gustavo Borges den Anmeldezettel zurück. Ein Angestellter nahm seine beiden großen Koffer und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Er selbst nahm die Treppe. Das Zimmer befand sich im ersten Stock und roch angenehm nach Holz. Es war außergewöhnlich groß, mit einem Doppelbett, einer Leseecke, einem Schreibtisch aus Holz, einem begehbaren Wandschrank und einem Flachbildschirm an der Wand. Auch das Badezimmer war geräumig gestaltet. Vom Balkon mit zwei Korbsesseln und einem runden Holztisch aus sah er auf die Straße, von der jener Waldweg abzweigte, auf dem er seit seinem Treffen mit dem Historiker täglich zu seiner Vergangenheit lief. Das Interessanteste an dem Zimmer aber war der Holzboden. Er war so gut verarbeitet, dass er gleich nach Ankunft im Hotel auf ihm tanzte. Obwohl Borges schon so alt war, konnte er noch leichtfüßig und schmerzfrei über das Parkett schwingen. Nach einigen Minuten jedoch hörte er auf. Seine Frau fehlte ihm, die über Jahrzehnte seine Tanzpartnerin auf den Bühnen Argentiniens und in aller Welt gewesen war.

      Er machte die Balkontür auf. Kalte Frühjahrsluft strömte herein. Er bekam Lust, eine Zigarre zu rauchen und einen Cognac zu trinken. Beides wollte er auf dem Balkon genießen. Er öffnete einen seiner Koffer und suchte nach einem dicken Pullover. In der Minibar gab es keinen Cognac, wie er zu seinem Bedauern feststellen musste. Er ließ den Zimmerservice kommen und bestellte einen französischen Cognac. Der Mann empfahl ihm einen exquisiten deutschen Cognac, besser gesagt: einen badischen Weinbrand. Man dürfe ihn nicht Cognac nennen, das sei eine geschützte Bezeichnung. Aber er sei nach dem Cognac-Verfahren hergestellt. Oder ob er den Whisky »Black Forest wild« genießen wolle? Das Hotel unterstütze bewusst regionale Produzenten. Borges zögerte. Er war immer bereit, etwas Neues auszuprobieren, und entschied sich für den badischen Weinbrand.

      Bis dieser serviert wurde, bereitete er sich auf das Rauchen vor. Aus dem zweiten Koffer zog er zwei edle schwarze Kisten hervor. In der einen lagen erlesene Zigarren, in der zweiten ein Temperaturmessgerät und Bestecke zum Schneiden und Präparieren der Zigarren. Das Rauchen einer Zigarre war für ihn Kultur und Zeremonie. Er verabscheute es, das Kopfende einer Zigarre abzubeißen oder abzuknipsen. Sein Besteck bestand aus mehreren Instrumenten, jedes angepasst an die Form der jeweiligen Zigarre: mehrere Cutter, ein Zigarrenbohrer, eine Zigarrenschere. Zunächst prüfte er die Temperatur in der Zigarrenkiste aus Spanischer Zeder, in der sich ein kleiner Befeuchter befand. Die Temperatur war optimal. Die Zigarren hatten die lange Reise gut überstanden. Er nahm eine heraus und entschied sich für den Bohrer, der ein scharfkantiges rundes Loch schuf. Mit der Zunge leckte er die Zigarre an der Bohrstelle an. Kein Tabakkrümel blieb an der Zunge hängen, ein gutes Zeichen.

      Borges setzte sich in einen Korbsessel auf dem Balkon und zündete ein neun Zentimeter langes Streichholz an, ebenfalls aus Spanischer Zeder. Ihr Holz eignete sich für den Bau von hochwertigen Gitarrenhälsen und Zigarrenbehältern. Von ihm ging ein Geruch aus, der sich gut mit Zigarren vertrug und sogar Schädlinge abhielt. Jüngst hatte er zu seinem Bedauern gelesen, dass die Spanische Zeder auf die Rote Liste gefährdeter Arten gesetzt worden war. Mit der Flamme fuhr er so lange über den Zigarrenfuß, bis sich ein gleichmäßiger Aschering bildete. Das abgebrannte Streichholz legte er in seinem silbernen Aschenbecher ab, den er auf die Reise mitgenommen hatte, zog ein zweites Streichholz aus der Schachtel und riss es an. Er wartete, bis der schwefelhaltige Zündkopf abgebrannt war. Beim Rauchen achtete er sehr darauf, dass das Aroma der Zigarre nicht beeinflusst wurde. Langsam führte er die Flamme zur Zigarre und sog an ihr. Ein starker, würziger Duft umgab ihn.

      Der

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