Tannenruh. Willi Keller

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Tannenruh - Willi Keller

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Zimmer, dann auf den Balkon. Der Kellner zeigte Borges den Weinbrand, verwies auf das Etikett und den Jahrgang und schenkte ein. Borges nahm das große, bauchige Glas in die rechte Hand und wärmte das Getränk, bis der Duft aus dem Glas stieg, der sich durch eine besondere Note auszeichnete. Er probierte einen Schluck. Weich und rund schmeckte er. Der Kellner hatte nicht zu viel versprochen. Mit Genuss sog er an seiner Zigarre. Schon bald war er von einer Wolke umhüllt. Zum Glück blies kein Wind. Er dampfte sich oft mit einer Zigarre zu. Das war eine seiner vielen Strategien, sich unsichtbar zu machen. Versteckspiele trieb er seit seiner Kindheit, der Kindheit, an die er sich erinnern konnte. Die andere Kindheit, die er suchte, war ihm in jener Nacht 1945 genommen worden. Bis heute hatte sie ihm niemand zurückgegeben.

      Geblieben waren eine dissoziative Amnesie, wie ihm ein Psychiater einst erläutert hatte, und traurige Augen. Borges erinnerte sich nicht mehr an das Ereignis in jener Nacht. Seine Psyche beziehungsweise sein Gehirn überzog das Geschehen mit einem Schutzfilm, damit er von diesem Erlebnis nicht erdrückt wurde. In seinem Fall war der Schutzfilm so groß, dass er auch die Zeit vor dem Ereignis verdunkelte. Der Psychiater hatte ihm erklärt, dass eine Traumatherapie die Erinnerung an das Ereignis zurückbringen könne. Dieser Weg sei allerdings schwer und lang, nicht immer erfolgreich und könne eine Depression zur Folge haben. Es könne auch sein, dass er sich mit zunehmendem Alter wieder an das Erlebnis erinnere, das die dissoziative Amnesie ausgelöst habe.

      Den Psychiater hatte Borges aufgesucht, als er schon Mitte 40 war, weil er klären wollte, warum er sich nicht an seine Kindheit vor dem siebten Lebensjahr erinnern konnte. Und ob damit sein ständiger trauriger Blick zusammenhing. In der Tanzszene hatte er den Spitznamen »Buster Keaton«, weil sein Blick an den ernsten und stoischen Gesichtsausdruck des amerikanischen Komikers aus der Stummfilmzeit erinnerte.

      Es könne etwas Traumatisches in seiner Vergangenheit passiert sein, hatte ihm der Psychiater gesagt. Ob er darüber schon einmal in der Familie gesprochen habe. Borges musste damals verneinen. Der Psychiater hatte ihm geraten, nach Informationen über seine frühe Kindheit zu suchen. Dann könne man über eine Strategie und eine geeignete Therapie reden. Wie er denn in der Kindheit gewesen sei, an die er sich erinnern könne, hatte er gefragt. Ängstlich, hatte Borges geantwortet, sehr ängstlich. Er habe immer Schutz gesucht und sich oft hinter seiner Mutter versteckt. Seine Eltern hätten gesagt, er sei eben ein sensibler Junge. Borges hatte dem Psychiater verschwiegen, dass seine Eltern eigentlich seine Stiefeltern waren.

      Seine Kindheit war seltsam verlaufen. Er hatte in einer Blase gelebt, die er erst durchstieß, als er zwölf Jahre alt war. Sein Stiefvater nahm ihn eines Tages mit in ein Lokal, in dem an manchen Abenden Tango getanzt wurde. Das Lokal war ein Treffpunkt von Tänzerinnen und Tänzern. Viele von ihnen wurden berühmt. Er war fasziniert von diesen Menschen, die sich, begleitet von Bandoneon, Piano, Violine oder Gitarre und Gesang, so drehten, bogen und bewegten, dass sie die Erdanziehungskräfte zu neutralisieren schienen. Besonders angetan war er von einem schwarzhaarigen Mädchen, das mit größter Anmut über den Tanzboden schwebte. Von diesem Abend an kannte er nur noch ein Ziel: tanzen. Er bettelte so lange, bis seine Stiefeltern nachgaben und mit ihm zu einem Tangolehrer gingen. Der erkannte seine Begabung, seine Musikalität, seine Körperbeherrschung. Und dort sah er es wieder: das schwebende schwarzhaarige Mädchen. Seine Liebe für die Ewigkeit.

      Am Abend nach dem ersten Gespräch mit dem Psychiater war Borges mit seinem Stiefvater allein im Salon gesessen. Er hatte ihn gefragt, ob in seiner Kindheit etwas Schlimmes vorgefallen war. Vor seinem siebten Lebensjahr.

      Sein Stiefvater schaute ihn überrascht an und sagte zunächst nichts. Er war auf diese Frage offensichtlich nicht vorbereitet, vielleicht fürchtete er sich vor ihr. »Du hättest besser nicht gefragt«, stammelte er nach einiger Zeit. Es folgte eine Pause, die noch länger dauerte als die erste. »Ja, es ist etwas passiert«, sagte er mit leiser Stimme. »Im April 1945. Im Nordschwarzwald. Dabei ist deine Familie umgekommen.« Wieder eine Pause, die nicht enden wollte.

      Borges wusste, dass er aus Deutschland stammte. Eines Tages hatten sie ihm beiläufig erzählt, dass sie seine Stiefeltern waren und sie alle, auch er, aus dem Schwarzwald kamen. Das hatte er nicht verstanden, sie trugen doch alle einen argentinischen Namen. In dem Viertel, in dem sie wohnten, hatte sich eine kleine deutsche Kolonie gebildet. Nach innen blieb sie deutsch, nach außen integrierte sie sich überraschend schnell – sozial und sprachlich. Alle Fragen nach dem Warum der Auswanderung nach Argentinien und nach Borges’ Ursprüngen hatten seine Stiefeltern abgewürgt. Danach war seine Herkunft nie wieder Thema gewesen.

      Bis zu diesem Tag, an dem er seinem Stiefvater die Frage nach einem traumatischen Erlebnis in der Vergangenheit stellte. Er machte sich auf Schlimmes gefasst. Die Antwort des Stiefvaters enttäuschte ihn deshalb, beunruhigte ihn aber gleichzeitig.

      »Lass die Vergangenheit ruhen. Sie tut dir nicht gut, unserer ganzen Familie nicht. Wenn du in der Vergangenheit gräbst, wirst du vernichtet.«

      »Warum, und von wem?«, fragte er seinen Stiefvater.

      »Das kann ich dir nicht sagen. Ich habe versprochen, zu schweigen. Und ich halte mich daran. Wenn ich nicht die ganze Zeit geschwiegen hätte, hättest du nie Karriere machen können. Wer weiß, dann wärst du vielleicht nicht mehr am Leben. Es hat mich viel gekostet, das alles bis heute auszuhalten. Glaube es mir. Und frage mich nie mehr nach deiner Vergangenheit!«

      Der letzte Satz, lauter als die anderen gesprochen, klang streng und hart und stach Borges ins Herz. So kannte er seinen Stiefvater gar nicht, der ein sehr liebevoller Familienmensch war. Auf was hatte sich sein Stiefvater eingelassen? Borges hatte ihn nie nach seiner Biografie gefragt. Er war handwerklich geschickt und arbeitete seit Anfang der 50er-Jahre bei einer Sicherheitsfirma, die ein Mann aus der kleinen Kolonie gegründet hatte, ein Mann aus Deutschland, der kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Argentinien angekommen war. Sein Stiefvater erzählte nie etwas aus der Firma. Das respektierten alle in der Familie. Nur einmal sagte er stolz zu seiner Frau, dass sie immer mehr Regierungsaufträge erhielten. Sein Chef galt als energischer Unternehmer, der seine Firma zu einem Sicherheitsimperium ausbaute. Er hatte gute Beziehungen in höchste politische und militärische Kreise und ins Ausland, auch nach Deutschland. In der Kolonie hatten alle den größten Respekt vor dem Chef, einen Respekt, der eher mit Angst zu vergleichen war. Der Chef hatte Augen und Ohren überall. Nichts entging ihm. Andererseits war er oft Helfer in schwierigen Situationen. Sein Stiefvater, der gut mit seinem Chef auskam, profitierte vom Aufstieg der Firma, die Familie konnte sich immer mehr leisten. Seine Arbeit in der Firma blieb jedoch ein Geheimnis.

      Borges hielt sich an die Mahnung seines Stiefvaters und bohrte nicht weiter in der Vergangenheit. Es war Tradition in seiner Familie, schwierige Fragen nicht zu beantworten, Unangenehmes zu verdrängen und Konflikte zu vermeiden. Sie orientierte sich an der Gegenwart und an der Zukunft, aber nicht an der Vergangenheit. Dieser Tradition folgte auch er nach dem Gespräch mit dem Stiefvater. Den Termin mit dem Psychiater sagte er ab.

      Die Worte seines Stiefvaters hallten allerdings nach und nagten an seinem Selbstbewusstsein. Und sie machten ihm Angst. Offenbar hatten mächtige Leute seine Familie in der Hand. Aber warum? Borges fühlte sich beschattet, war immer auf der Hut vor einer unsichtbaren Bedrohung. Er entwickelte Strategien, um der Bedrohung zu entgehen. Wenn er in Lokale ging, nahm er stets den Platz ein, von dem aus er alles und jeden beobachten konnte. Er wollte vorbereitet sein. Seine Strategien nahmen Züge von Verfolgungswahn an. Gleichzeitig versuchte er, alles zu vergessen, was ihm sein Stiefvater mitgeteilt hatte. Er hätte ihn nie nach der Vergangenheit fragen dürfen. Aber er wunderte sich auch über ihn. Warum hatte er so konkrete Andeutungen gemacht? Er hätte ihn doch mit einer Ausrede zufriedenstellen können. Welche Rolle hatte sein Stiefvater in der Vergangenheit gespielt? In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis hatte er zu seiner Familie gestanden? Oder war er ein Freund seiner Familie? Hatte er Schuld auf sich geladen? Und warum hatte er ihn wie ein eigenes Kind großgezogen? Überhaupt: Wie hatten sie es nach Argentinien geschafft? Auch die Überfahrt war aus seinem Gedächtnis gelöscht.

      Wochenlang

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