Tannenruh. Willi Keller
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Die ganze Zeit hatte Winker monoton und kraftlos gesprochen. Er beendete seinen Vortrag und Berger wollte schon aufstehen. Doch der Kripochef war nicht fertig. »Ich will noch einmal kurz die Soko Gifiz ansprechen.«
Winker stockte, als ringe er um Worte. Berger verspürte in sich eine Unruhe. Was war nur mit Winker los?
Der Kripochef richtete sich auf und sagte mit noch leiserer Stimme: »In den ChrisTer-Fällen gibt es etwas Merkwürdiges, das mir Sorgen bereitet. Ich will in Ruhe mit Ihnen darüber reden, wenn Sie den Fall im Hotel Schatzhauser bearbeitet und abgeschlossen haben …« Weiter kam Winker nicht mehr. Er sackte ohnmächtig in seinem Stuhl zusammen.
»Winker, was ist los?« Berger sprang auf, rannte zur Tür, riss sie auf und schrie: »Schnell, den Notarzt. Winker ist zusammengebrochen. Schorschi an der Pforte muss das Tor entsichern und aufmachen. Wo ist der verdammte Defibrillator?«
Röschen hatte schon das Telefon am Ohr. »Aus der Tür raus, gleich rechts.«
Berger löste den Defibrillator von der Wand und rannte zurück in Winkers Büro. Er schaltete das Gerät ein, zog Winker vorsichtig aus dem Sessel und legte ihn auf den Boden, machte sein Hemd mit einem Ruck auf und legte die Klebeelektroden des Defibrillators an. Das Gerät kontrollierte selbstständig die Herzströme. Es zeigte an, dass ein Elektroschock nötig war. Berger drückte den entsprechenden Knopf. Der Schock zeigte überraschend schnell Wirkung.
Winker kam wieder zu sich.
Berger hatte sich auf größere Komplikationen eingestellt. »Alles wird gut. Bleiben Sie ruhig. Gleich kommt Hilfe.« Berger redete beruhigend auf Winker ein und hielt seine linke Hand. Bald erklang das Martinshorn des Krankenwagens und wurde immer lauter. Der Notarztwagen erweiterte das Klangbild. Nach kurzer Zeit hörte Berger die Stimmen der Retter und von aufgeregten Kolleginnen und Kollegen auf dem Gang. Er war froh, als er die Verantwortung abgeben und Winkers Hand loslassen konnte, blieb aber im Raum.
Als der Notarzt und die Sanitäter fertig waren, klopfte der Notarzt Berger auf die Schulter. »Ihre schnelle Reaktion hat ihm das Leben gerettet.«
»Und, wie sieht es aus?«
»Gut, denke ich. Den Umständen entsprechend. Natürlich muss er ordentlich untersucht werden. Er wird wieder auf die Beine kommen, wenn nichts Schlimmeres entdeckt wird. Wenn Sie länger als drei Minuten gebraucht hätten, stände es jetzt schlecht um ihn. Nicht jeder Mensch reagiert im Notfall so wie Sie. Ein Profi hätte es nicht besser gemacht.«
Sie legten Winker auf eine Trage und brachten ihn vorsichtig aus dem Raum. Berger musste sich erst einmal setzen. Die Spannung fiel von ihm ab. Der erste Tag der Wiedereingliederung fing ja gut an.
Rosemarie Schöntal kam ins Zimmer, mit Tränen in den Augen. »Wird er wieder gesund?«
»Der Arzt sagt, er komme wieder auf die Beine.«
»Wollen Sie einen Kaffee?«
»Gerne. Möglichst stark.« Den Neustart im Dienst hatte sich Berger anders vorgestellt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, so geschockt war er. Gleichzeitig spürte er, dass ihm das Lob des Notarztes guttat. Dass er instinktiv das Richtige getan hatte, ohne lang zu überlegen, konnte Berger nicht begreifen.
Die Assistentin stellte den Kaffee auf Winkers Schreibtisch. »Was wird jetzt aus ihm? Kommt er in den Dienst zurück?«
»Ich kann Ihnen das nicht beantworten. Ich bin kein Arzt. Der Notarzt hat mir nur gesagt, es sehe gut aus. Das heißt noch nicht, dass er wieder arbeiten kann. Außerdem muss Winker das selbst entscheiden. Da kann man nur abwarten.« Sprach er von Winker oder über sich selbst?
Kolleginnen und Kollegen drängten in den Raum und wollten Einzelheiten wissen. Sie fragten nicht einmal, wie es Berger nach der langen Auszeit ging, so spannend und aufregend war dieser Moment. Mechanisch erzählte Berger, was passiert war, während sich in seinem Kopf Winkers bedeutungsschwerer Satz »In den ChrisTer-Fällen gibt es etwas Merkwürdiges, das mir Sorgen bereitet« Wort für Wort festsetzte. Sein Kaffee wurde in der Zwischenzeit kalt.
Kapitel 3
Beinahe hätte Alban Berger die Abfahrt zum Hotel Schatzhauser verpasst. Das kleine Schild, das den Weg wies, war nicht gut zu sehen, vor allem nicht bei diesen Lichtverhältnissen in der beginnenden Dämmerung. Die alte Schrift erschwerte zusätzlich das Lesen. Das Hotel schien keine Gäste anlocken zu wollen.
Er war viel zu spät dran. Der Zusammenbruch von Kripochef Winker hatte den ganzen Tagesablauf verändert. Zu Hause hatte er schnell seine Sachen zusammengepackt und Ariane einen Zettel hingelegt, dass er dienstlich für zwei Tage im Hotel Schatzhauser untergebracht sei. Sie führten seit Monaten eine »verzettelte« Beziehung. Wenn etwas zu erledigen oder mitzuteilen war, schrieben sie es auf ein Blatt Papier oder einen ausgedienten Briefumschlag und platzierten die Information mitten auf dem Esstisch.
Berger trat fest auf die Bremse und lenkte in letzter Sekunde den Wagen nach links auf einen Weg. Schotterstraße mit wassergebundener Decke, schoss es ihm durch den Kopf, so hieß dieser Straßenbelag im Fachjargon und wurde nur bei Wegen mit geringer Verkehrsbelastung aufgebracht, zum Beispiel bei Waldwegen. Das hatte Berger von seinem Bruder Harald gelernt, der Spezialist für Geodäsie, Geodateninformation und Berater von Gemeinden und Landkreisen war.
Bergers schnelles Abbiegen und seine kurze Unaufmerksamkeit brachten den Wagen ins Rutschen, aber er konnte ihn rechtzeitig abfangen und zum Stehen bringen. Allerdings würgte er den Motor ab. Er schaltete aus und wieder ein und fuhr vorsichtig weiter. Langsam musste er es angehen lassen, wie überhaupt alles in seinem Leben nach der Rekonvaleszenz. Was hieß denn Rekonvaleszenz? Dass er in der Endphase der Heilung war. Noch nicht gesund und noch nicht wiederhergestellt. In jeder Faser seines Körpers, in jedem Muskel und im Kopf spürte er das. Aber er war auf dem Weg zu seinem ersten Auftrag. Ein leichter Fall für den Wiedereinstieg.
Ein lauter Schlag unter seinem Auto riss ihn aus den Gedanken. Vermutlich war er über einen Stein gefahren. Konzentriere dich auf die Straße und stoppe deine dunklen Gedanken, beschwor er sich. Die Straße war nicht breit, hatte allerdings in regelmäßigen Abständen unterschiedlich große Ausweichbuchten. Sie schlängelte sich durch einen dichten Tannen- und Fichtenwald, der zum Namen »Schatzhauser« passte.
Nach einer weiteren Biegung musste er erneut scharf bremsen und traute seinen Augen kaum. Hatte er einen Tagtraum?
Vor ihm stand mitten auf der Straße ein großer Wolf und machte keine Anstalten, zu fliehen. Noch nie war er einem Wolf so nahegekommen. Nur einmal hatte er aus sicherer Entfernung Wölfe im Bärenpark bei Bad Rippoldsau-Schapbach beobachtet. In den etwas besseren Zeiten der letzten Monate, wenn die alte Leselust wie eine zarte Frühlingsblume leise erwacht war, hatte er sich unter anderem mit der Debatte