Tannenruh. Willi Keller
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Während Berger seinen Gedanken freien Lauf ließ, stand der Wolf unbeweglich da, den Schwanz hatte er nach oben gestreckt, sein starrer Blick richtete sich auf das unbekannte Objekt auf der Straße, die Ohren waren nach vorn gestellt. Das Tier strotzte vor Selbstbewusstsein. Handelte es sich um jenen Wolf, der seit längerer Zeit den Nordschwarzwald durchstreifte? Berger zog sein privates Smartphone aus der linken Brusttasche, klappte den schwarzen Schutz auf und ließ vorsichtig das Seitenfenster herunter. Kalte Waldluft wehte ihm entgegen. Langsam streckte er sich aus dem Fenster und drückte mehrfach auf den Auslöser der Kamera. Der Wolf, dem die Kamerablitze nichts auszumachen schienen, neigte kurz seinen Kopf und richtete ihn wieder auf. Berger schätzte, dass das Tier eine Schulterhöhe von mindestens 75 Zentimetern hatte, wenn nicht noch mehr. Die Schulterhöhe der größten Wölfe betrug 80 Zentimeter, sie lebten im Norden Russlands, in Kanada und Alaska. War es wahrscheinlich, dass Wölfe von Russland bis nach Deutschland wanderten? Eher nicht, wenn die Wolfexperten recht hatten. Er schaute auf die Bilder, die er vom Wolf geschossen hatte. Sie waren erstaunlich gut. Eigentlich müsste er den Wolf den zuständigen Behörden melden, wollte sich das aber noch überlegen. Vielleicht leitete er die Fotos im Hotel weiter, wenn er eingecheckt hatte.
Berger klappte sein Smartphone zu und sah auf. Der Wolf war verschwunden – wie eine übernatürliche Erscheinung. Aber seine Fotos bewiesen, dass er sich nicht getäuscht hatte. Um ganz sicherzugehen, schaute er sie noch einmal an. Sie ließen keinen Zweifel zu. Er war einem Wolf begegnet, einem erstaunlich großen Wolf.
Als er weiterfuhr, schloss er das Fenster und versuchte, sich besser als bisher auf die Straße zu konzentrieren. Erst jetzt fiel ihm auf, dass an den Straßenrändern und im Wald noch angetauter Schnee lag. Der Weg zum Hotel zog sich endlos hin. Als er die gefühlt hundertste Kurve hinter sich ließ, staunte er.
In rund 200 Metern Entfernung stand ein riesiges, dreieinhalbgeschossiges Haus. Dezente Außenbeleuchtung machte aus dem Gebäude ein unheimliches Gebilde. Berger steuerte auf den halbrunden Parkplatz zu, der sich links vom Hotel befand. Es waren nicht alle Plätze besetzt. Langsam stieg er aus, holte seine schwarze, lederne Reisetasche mit Bügelverschluss aus dem Kofferraum, schloss den Wagen ab und ging zum Eingang. Über der Holztür stand in kräftigen alten Lettern »Hotel Schatzhauser«. Die Schriftart, die auch den Wegweiser zum Hotel geziert hatte, kam Berger bekannt vor. Sie zeichnete sich durch eckige Buchstaben und einen gebrochenen Schreibfluss aus. Es fiel ihm aber nicht sofort ein, wie sie hieß. Auf jeden Fall zog sie die Aufmerksamkeit auf sich und erinnerte an alte Zeiten. Die Eigentümer schätzten offenbar die Vergangenheit.
Er zog die schwere Tür mit Holzgriff auf, was nicht so einfach war. Gastfreundlich wirkte das nicht. Schwabacher! So hieß die Schriftart! Alte Schwabacher Schrift. Sie passte zu dem Namen »Schatzhauser«. Die Schwabacher war im 15. Jahrhundert entstanden. 1498 hatte sie Albrecht Dürer für seine 15 Holzschnitte zur Offenbarung des Johannes verwendet. Obwohl sie mit der Zeit von anderen Schriftarten verdrängt worden war, hielt sie sich bis ins 20. Jahrhundert. 1941 verboten die Nationalsozialisten die offizielle Verwendung der Schriftart und bezeichneten sie als »Schwabacher Judenlettern«. Berger erinnerte sich, dass er eine alte Ausgabe von Wilhelm Hauffs »Das kalte Herz« in der Schwabacher Schrift gelesen hatte.
Der Empfang im Hotel war so kühl wie die Waldluft in der Dämmerung. An der Rezeption nannte er seinen Namen, legte seinen Dienstausweis vor und sagte, dass für ihn ein Zimmer für zwei Nächte reserviert sei.
Der Mann an der Rezeption schaute ihn misstrauisch an. »Guten Tag, wir wissen Bescheid. Ihr Zimmer befindet sich im zweiten Stock, Nummer 21. Bitte füllen Sie den Meldezettel aus.«
Berger beeilte sich mit der Formalität und überreichte dem Mann wortlos das Papier. Wie um einen bösen Geist abzuwehren, streckte ihm der Mann eine gemaserte Holzkugel entgegen, an der zwei Schlüssel hingen, einer für das Zimmer und einer für die Eingangstür. Berger nahm die Kugel aus einer feuchten und kalten Hand entgegen.
»Sie können auch den Aufzug nehmen.«
»Nein, danke«, sagte Berger, »ich schaffe es über die Treppe«, und machte sich auf den Weg in den zweiten Stock. Trotz des gedämpften Lichts in den Gängen, fand er schnell das richtige Zimmer. Es lag über dem Eingangsbereich. Beim Öffnen der Tür schlug die Holzkugel wild hin und her. Mehrmals traf sie die Zimmertür. Falls er sehr spät in sein Zimmer zurückkehrte, durfte er die Holzkugel nicht so schwingen lassen. Als er sich umblickte, musste er zugeben, dass ihm der Raum gefiel. Auf dem hölzernen Schreibtisch lagen Prospekte, obenauf ein Flyer mit der Überschrift »Das Schatzhauser – ein Hotel aus echter Weißtanne«. Daneben mehrere Informationsblätter gleichen Inhalts, aber in verschiedenen Sprachen. Er schaute sich den deutschen Flyer genauer an.
»Sehr geehrte Gäste, unser Haus fühlt sich dem Erhalt der Schöpfung verpflichtet. Deshalb haben wir uns entschieden, das Hotel ausschließlich mit dem Holz des Schwarzwaldes zu bauen, mit der Weißtanne, der wichtigsten natürlichen Nadelbaumart dieser Region. Sie ist ein Symbol ewiger Lebenskraft, ein Sinnbild für Schönheit, Stärke und Größe und strahlt Achtung und Würde aus.
Unser Haus besteht aus nachwachsenden Rohstoffen. Dübel aus dem Holz der Rotbuche halten alles zusammen. Diese Rohstoffe binden zu 100 Prozent CO2 und schützen so unsere Erde. Das Holz verbreitet in den Innenräumen ein angenehmes Klima und einen wunderbaren Geruch. Es gleicht die Feuchtigkeit aus und ist bei Berührung immer warm. Schindeln der einheimischen Fichte bilden die Außenhaut unseres Hauses. Im Abendlicht strahlt unser Hotel eine ganz besondere Atmosphäre aus.
Den Namen ›Schatzhauser‹ haben wir bewusst gewählt. Schatzhauser ist der gute Geist des Schwarzwaldes, der vor dem Bösen bewahrt und den Tannenwald und seine Bewohner beschützt. Wir haben in diesem naturgerechten Haus alles so eingerichtet, dass Sie entspannen und in sich ruhen können. Wir legen größten Wert darauf, dass Sie sich nicht gestört fühlen, und wünschen Ihnen einen unvergesslichen Aufenthalt.«
Der Flyer war reich bebildert und zeigte das »Schatzhauser« aus unterschiedlichen Perspektiven. Auf der Rückseite befand sich nur ein Foto, das Hotel im Abendlicht. Es strahlte tatsächlich eine besondere Atmosphäre aus. Als wohltuend empfand Berger diese Atmosphäre aber nicht. Sie hatte etwas Unheimliches. Aber vielleicht verstellte ihm seine Skepsis den Blick auf die Ästhetik des Hotels. Er strich langsam mit seiner rechten Hand über die Wand am Nachttisch. Das Holz fühlte sich tatsächlich warm an.
Berger öffnete seine Bügeltasche und räumte seine Sachen in den begehbaren Wandschrank ein. Die Dienstpistole schloss er im Safe ein und bereitete sich auf die Befragung des Personals und der Gäste vor.
Die Befragungen konnte er nur teilweise führen. Einige der Gäste waren noch unterwegs und kamen vermutlich erst spät zurück ins Hotel, hieß es jedenfalls an der Rezeption. Berger konnte immerhin in Erfahrung bringen, dass der Argentinier so gut wie keinen Kontakt mit anderen Gästen hatte, pünktlich morgens um 8 Uhr zum Frühstück erschienen war, um 12.30 Uhr zum Mittagessen und um 19.30 Uhr zum Abendessen. Am Nachmittag hatte er lange Spaziergänge gemacht, niemand wusste, wohin. Wobei Berger dieser Aussage nicht traute. Wenn der Argentinier im Hotel geblieben war, hatte er sich auf seinem Zimmer, in der Bibliothek oder, bei entsprechender Witterung, auf dem Balkon aufgehalten und eine Zigarre geraucht, einen Cognac und meist noch einen doppelten Espresso getrunken.
Die Angestellten verhielten sich bei der Befragung so zurückhaltend, dass man es als Abwehr interpretieren konnte.