Tannenruh. Willi Keller
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Nach dem köstlichen, aber doch gewöhnlichen Abendessen eines guten Restaurants, legte sich Berger auf sein Bett und las die Referentenliste im Programmheft. Auf seinem Tablet recherchierte er nach Dr. Theobald Lenzen, dem ehemaligen Landesbischof. Lenzen hatte sich während seiner Studienzeit journalistisch betätigt, in Zeitschriften der Neurechten. Nach Examen und Doktorarbeit hatte er sich hochgearbeitet bis zum Bischof einer ostdeutschen evangelischen Landeskirche. Er bezeichnete sich als Kontrapunkt zum liberalen Mainstream in der Kirche. Seinen Aufstieg verdankte er unter anderem seinem Redetalent. Obwohl er gegen die Ehe für alle kämpfte, von der Aufweichung des Staates sprach, die offene Gesellschaft infrage stellte, mehr Gottesbezogenheit und mehr Abgrenzung in der Kirche und zu anderen Religionen forderte, war er zum Bischof gewählt worden. Als Artikel aus seiner Vergangenheit aufgetaucht waren, die seine rechte Haltung belegten, und es in der evangelischen Kirche zu rumoren begonnen hatte, war er zurückgetreten. Schuldbewusstsein zeigte er nicht. Er warf seinen Kritikern Hetzkampagnen vor und Feigheit vor der Auseinandersetzung um den richtigen Weg der Kirche. Der Rücktritt war für Lenzen jedoch kein Abschied von der öffentlichen Bühne. Er nutzte seine neu gewonnene Freiheit, trat als Redner und Vordenker eines strengen Protestantismus auf und füllte die Säle. Als habe man auf ihn gewartet. Ein Kommentator schrieb, die Menschen lechzten geradezu nach seinen Worten und Botschaften.
Auch die anderen Referenten auf der Liste, darunter evangelische und katholische Theologen, Politiker und ein Amerikaner, der verschiedene Regierungen beraten hatte, vermittelten in ihren Beiträgen ein ähnliches Welt- und Menschenbild wie der ehemalige Bischof: Stopp der Masseneinwanderung von Muslimen, Kampf gegen die gottlose Gesellschaft der liberalen Eliten auf der Welt, Rückkehr zu den wahren christlichen Werten. Der Amerikaner war als letzter Referent des ersten Halbjahres vorgesehen. Sein Thema: »Gladiatoren einer neuen christlichen Kultur«.
Alle Referenten, die Berger im Netz ausfindig machen konnte, beriefen sich nicht auf jüdisch-christliche Traditionen und Werte des Abendlandes, sondern nur auf christliche. War das »Schatzhauser« eine heimliche Ideologie- und Kaderschmiede? Ihn fröstelte, er klappte das Tablet zu, trank einen Schluck Wasser, machte das Licht aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Gleich wurde ihm wieder wärmer.
Kapitel 4
Die Balkontür stand offen. Frische Morgenluft zog herein, ein leichter Wind blähte den Vorhang etwas auf. Er hatte überraschend gut geschlafen. Nicht ein einziges Mal war er aufgewacht, bevor der Wecker seines privaten Smartphones ihn aus dem Schlaf holte. An Träume konnte er sich nicht erinnern. War die Nacht der erste Schritt zur allgemeinen Besserung seines Zustandes, nicht nur zur punktuellen? Oder hatte die Waldluft seinen Körper und seinen Geist »gereinigt«? Oder hatte die »achtsame« Kochkunst doch Wirkung gezeigt?
Gleich nach dem Aufstehen sah sich Berger vor und hinter dem Haus um. Der Weg, auf dem er gekommen war, endete am Hotel. Gestern Abend war ihm das nicht aufgefallen. Rechts hinter dem Haus war eine breit angelegte Garage in den Hang gebaut. Sie war verschlossen. Als er wieder zum Eingang zurückgehen wollte, kam ihm der hagere Mann mit der unangenehmen Stimme entgegen, der ihn gestern in der Bibliothek angesprochen hatte.
»Hinter dem Hotel hat sich der argentinische Gast nie aufgehalten«, sagte er.
»Danke für den wichtigen Hinweis«, antwortete Berger und schlenderte an dem Hageren vorbei. Er stand also unter Beobachtung.
Im Hotel ging er Stockwerk für Stockwerk ab. Unter dem Dach befanden sich links und rechts des Flurs Räume, die nicht zugänglich waren. Ein dickes Seil spannte sich am Treppenaufgang von einer Seite zur anderen, an dem ein Schild hing. In vier Sprachen war darauf zu lesen: »Privat! Durchgang nicht gestattet!« Doch auch von hier unten aus sah Berger ein Stück weit in den Flur mit den angrenzenden Zimmern hinein. Er hätte gerne gewusst, wer die Räume nutzte und wozu. Eine Weile blieb er stehen. Es war nichts zu hören, es öffnete sich auch keine Tür.
Enttäuscht ging er zurück auf sein Zimmer, machte sich Notizen und bereitete sich auf das Treffen mit Tammy vor. Währenddessen hörte er ein Motorrad vorfahren. Dem Sound nach konnte es nur die schwere italienische Maschine von Tammy sein. Sie hatten sich auf 9 Uhr im Frühstücksraum verabredet. Er zog den Vorhang ein wenig zurück und sah, wie Tammy auf den Parkplatz neben sein Dienstfahrzeug rollte und den Motor abstellte. Schwungvoll stieg sie ab und bockte die Maschine mit Leichtigkeit auf, schaute sich kurz um, nahm ihren Helm ab und schüttelte ihr Haar. Anschließend schälte sie sich aus ihrer schwarzen Lederkleidung. Diese »Entpuppung« erregte ihn. Er wartete, bis sie die Lederkleidung ausgezogen und sich in ein anderes Wesen verwandelt hatte, dann verließ er sein Zimmer und ging ihr entgegen.
Draußen vor dem Eingang zum Hotel umarmten sie sich. Tammy hatte wieder dieses bezaubernde Parfüm aufgetragen. Sie schulterte ihren Rucksack, folgte Berger an die Rezeption und checkte ein. Der Empfang fiel so frostig aus wie bei Berger. Im Frühstücksraum suchten sie sich einen Platz, an dem sie sich ungestört unterhalten konnten. Das war nicht schwer, denn es saßen nur wenige Gäste im Raum.
Tammy fragte Berger im Flüsterton: »Sag mal, gibt es hier im Hotel nur Männer?«
»Unter den Gästen, die ich gesehen habe, ist keine einzige Frau. Es gibt aber Toiletten für Frauen.«
»Das heißt, ich bin die einzige Frau im Haus?«
»Bei der Befragung gestern hatte ich mit drei Kellnerinnen zu tun. Der Zimmerservice ist männlich. Wie es mit dem Reinigungspersonal aussieht, weiß ich nicht.«
»Das ist ja mehr als komisch.«
»Das ist nicht das einzig Komische in diesem Haus.«
Sie holten am Buffet Brötchen, Käse, Wurst und Marmelade und ließen sich am Tisch Kaffee einschenken, von einer Frau. Erst als sich die Bedienung zurückzog, begannen sie mit ihrem Gespräch, jedoch so leise, dass niemand mithören konnte. Tammy wollte als Erstes wissen, wie es Berger ging.
»Es geht langsam aufwärts. Aber ich merke, dass ich aufpassen muss. In der Nacht habe ich erstaunlich gut geschlafen. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Normalerweise wälze ich mich stundenlang hin und her und komme immer wieder ins Grübeln.« Fragen nach seinem Gesundheitszustand schmerzten ihn, körperlich und seelisch, auch nach dieser ruhigen Nacht war es nicht anders. Meistens wich er aus, gab eine oberflächliche Antwort oder wechselte schnell das Gesprächsthema.
»Und wie geht’s deiner Frau?«
»Ariane hat sich gut erholt, sehr gut sogar. Sie hat die Krebsoperation ohne Probleme überstanden. Die Ärzte sagen, sie sei vollständig vom Brustkrebs geheilt. Sie geht wieder voll in ihrer Arbeit auf.« Wegen mir, um mein Elend nicht sehen zu müssen, dachte er, sprach es aber nicht laut aus. »An manchen Tagen sehe ich sie nicht einmal am Abend. Sie ist zur Cheflektorin aufgestiegen, was ihr kaum noch Freizeit lässt. Und wie steht es mit dir?« Tammy sah gut aus, als wäre sie gerade aus dem Urlaub gekommen.
»Ich kann mich nicht beklagen. Mein Leben ist gut ausgefüllt, zum größten Teil natürlich beruflich. Ich mache viele Sondereinsätze oder zusätzliche Dienste. Aber ein bisschen