Tannenruh. Willi Keller
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Tannenruh - Willi Keller страница 5
Die Felsennase tauchte schemenhaft vor ihm auf. Wie eine Rettung. Er überlegte, unter dem Felsen eine Pause einzulegen, bis das Wetter sich beruhigte und der Schneefall nachließ. Er beschleunigte seinen Schritt. Obwohl er den Mantelkragen hochgeschlagen hatte, war Schnee in seinen Nacken gelangt und schmolz. Kurz blieb er stehen und rieb mit seinem Stofftaschentuch den Nacken halbwegs trocken. Er verfluchte sich, dass er keinen Hut und keinen Regenschirm mitgenommen hatte. Aus dem nassen Haar rannen Tropfen über sein Gesicht und in den Nacken. Er steckte das vollgesogene Taschentuch in die rechte Manteltasche und freute sich auf die schützende Felsennase. Von den Knien abwärts war die Hose nass und klebte an den Beinen. In die halbhohen Schuhe, die angeblich wasserdicht waren, drang Feuchtigkeit. Seine Zehen waren schon ganz kalt.
Vorsichtig machte er einen Schritt nach dem anderen. Er durfte sich jetzt keinen Fehltritt leisten, vor allem nicht bei der Biegung. Bei trockenem Wetter war die Umrundung des Felsens ungefährlich, der Weg breit genug. Aber bei diesem starken Schneefall musste er darauf achten, dass er nicht zu weit nach rechts abkam und ausrutschte. Schritt für Schritt näherte er sich dem Zwischenziel. Als er es erreichte, tastete er mit der linken Hand den Felsen ab. Er drückte sich um ihn herum. Als er unter der Wölbung ankam, klopfte er erleichtert seinen Mantel ab und strich sich den Schnee aus dem Haar. Dann zog er sich rückwärts ein paar Schritte ins Innere zurück, um sich besser vor dem Schneetreiben zu schützen.
Plötzlich krachte es mehrfach hintereinander. Es hörte sich an, als würden Bäume umstürzen. Er trat wieder etwas hinaus und lauschte. Es war nichts mehr zu hören. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht. Als er unter die Wölbung zurückkehren wollte, flog etwas Schwarzes aus dem Inneren auf ihn zu.
Kapitel 2
Kriminalhauptkommissar Alban Berger überlegte in Ruhe, ob er alles Nötige bei sich hatte. Es war noch genug Zeit bis zum Termin bei Kripochef Hajo Winker. Er wollte allerdings an seinem ersten Arbeitstag nach der langen Auszeit im Dienst nicht auf den letzten Drücker erscheinen. Er zog die Haustür zu und drehte den Schlüssel langsam zweimal nach links. Anschließend drückte er die Klinke, um zu prüfen, ob die Tür tatsächlich geschlossen war, und trat dann auf die kleine Straße. Die Blätter der Catalpa würden bald austreiben, stellte er fest, als er seinen Blick über den Baum nach oben schweifen ließ. Das Badezimmerfenster! Es stand offen. Nach der heißen Dusche hatte er es weit geöffnet, um den Raum ausgiebig zu lüften. Also wieder zurück.
Schon wenige Sekunden später war er wieder draußen. Kaum Zeit verloren, beruhigte er sich, als er zur Garage ging. Unterwegs suchte er in seinen Taschen die Schlüssel für Garage und Wagen. Normalerweise steckte er den Garagenschlüssel in die linke und den Autoschlüssel in die rechte Hosentasche. Beide Taschen waren aber leer. Auch in seiner Jacke fand er die Schlüssel nicht. Er ärgerte sich über seine Vergesslichkeit. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als erneut ins Haus zurückzugehen.
Wo hatte er die Schlüssel nur hingelegt? Seine Großmutter hatte immer geraten, bei der Suche nach Verlorenem zum heiligen Antonius zu beten. Ein reines Konzentrationsspiel. Vermutlich lagen sie auf dem Wohnzimmertisch. Er musste endlich die Schlüssel für Haustür, Garage und Auto zusammenhängen. Ein Blick ins Wohnzimmer genügte. Fehlanzeige! Im Schlafzimmer durchsuchte er die Hose, die er tags zuvor anhatte. Fehlanzeige! Wo hatte er sich heute Morgen aufgehalten? Im Schlafzimmer, im Wohnzimmer, im Bad, im Keller, in seinem Arbeitszimmer, in der Küche. Er lief ins Bad. Nichts. Ins Arbeitszimmer. Keine Schlüssel. Er rannte die Treppe hinunter in die Küche. Neben der Kaffeemaschine am Fenster wurde er fündig. Hier hatte er noch nie seine Schlüssel abgelegt. Und die Kaffeemaschine hatte er auch nicht abgestellt. Der Kaffeerest in der Kanne war schon angebrannt. Er stellte die Glaskanne in die Spüle und füllte sie mit heißem Wasser. Hastig nahm er die Schlüssel an sich und verließ das Haus, natürlich nicht ohne mehrmalige Kontrolle der Tür.
Endlich saß Berger im Auto. Sein Zeitvorsprung war geschmolzen. Jetzt durfte auf dem Weg zum Polizeipräsidium nichts dazwischenkommen. War das Vergesslichkeit, was er da eben erlebt hatte? Oder eher ein Zeichen, dass er noch nicht reif war für eine Rückkehr in den Polizeidienst? Lange hatte er mit sich gerungen, mehrfach hatte seine innere Stimme empfohlen, den Dienst endgültig zu verlassen. Die Vorkommnisse des letzten Jahres hatte er bis heute nicht verarbeitet, vor allem den Tod seines jungen Kollegen Rackert, an dem er sich schuldig fühlte, weil er dessen Warnungen vor einer Terrorgruppe nicht ernst genommen hatte. Hätte er früher reagiert, wäre vielen Menschen Leid erspart worden. Mit der Soko Gifiz war er dem Anführer der 13-köpfigen Gruppe, die Anschläge in Offenburg verübt hatte, auf die Spur gekommen. Allerdings war dessen Auto auf der Verfolgungsjagd explodiert. In Schüben kamen immer wieder Schuldgefühle hoch. Da halfen keine Therapien und keine Psychopharmaka. Die Tabletten hatte er von sich aus abgesetzt, ohne seinen Ärzten etwas zu sagen. Auch Ariane, seiner Frau, hatte er sein eigenmächtiges Handeln verschwiegen. Wie so vieles seit seinen zwei Zusammenbrüchen, nach denen er in eine schwere Depression geraten war. Diese Fakten konnte er nicht leugnen.
Irgendwann hatte er jedoch beschlossen, in den Polizeidienst zurückzukehren. Seine Therapeuten und sein Hausarzt hatten das als Zeichen gewertet, dass er auf dem Weg der Gesundung sei. Er selbst sah das nicht so, er wollte einfach dieser Dunkelkammer entfliehen, in die er sich vor Monaten eingeschlossen hatte. Zusammen mit Selbstzweifel, Sprachlosigkeit, Antriebslosigkeit, Selbstverachtung, mit Suizidgedanken und reichlich Alkohol. Bisher konnte er die Tür aus der Kammer nur einen Spaltbreit öffnen, hoffte aber, dass er sie ganz aufstoßen konnte, wenn er sich der Wirklichkeit stellte. Vor der er große Angst hatte.
Berger bog nach links ab in die Prinz-Eugen-Straße und fand einen Parkplatz direkt vor dem Offenburger Präsidium. Er sah auf seine Uhr. Noch zwei Minuten bis zum Termin. Zum Glück hatte Schorschi Pförtnerdienst, der ihm freundlich winkte, den rechten Daumen nach oben streckte und die Tür per Knopfdruck entsperrte. Er wusste wohl Bescheid. Berger hob seine rechte Hand zum Gruß, nickte ebenso freundlich, rannte die Treppe in den ersten Stock hoch und meldete sich bei der Assistentin an. Die meisten nannten Rosemarie Schöntal nur Röschen. Sie wirkte wie immer wohlwollend und unverkrampft.
»Schön, dass Sie wieder da sind, Berger. Ich glaube, alle freuen sich auf Sie! Der Chef wartet schon.« Der Satz »Ich glaube, alle freuen sich auf Sie!« irritierte ihn. Sie war sich nicht sicher, ob sich alle freuten, sonst hätte sie das Wort »glauben« nicht benutzt.
Kräftig klopfte er an die Tür des Kripochefs und erwartete ein ebenso kräftiges »Herein«. Die Aufforderung, einzutreten, klang jedoch eher schwach. Überrascht und angespannt betrat Berger das Büro des Offenburger Kripochefs.
Hajo Winker stand langsam auf, als habe er Mühe, sich zu erheben, und reichte Berger die Hand. Sie fühlte sich schlaff an, was ungewöhnlich war. Durch Winkers Hand floss normalerweise so viel Energie, dass ihr Druck weh tat und es deshalb einige vermieden, ihn per Handschlag zu begrüßen.
»Berger, setzen Sie sich doch bitte.« Mit einem kleinen Seufzer ließ sich Winker in seinen Sessel fallen, während sich Berger sachte den Besucherstuhl heranzog und langsam Platz nahm. »Bevor wir in die Details gehen, Berger, muss ich Ihnen etwas sagen: Ich bin sehr erleichtert, dass Sie wieder da sind. Sie haben uns gefehlt. Ich erwarte von Ihnen Impulse, die die Soko Gifiz endlich voranbringen.«
Berger