Tannenruh. Willi Keller
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»Eigentlich schon.« Das klang nicht sehr überzeugend. Tammy sah es an Bergers fragendem Blick. Sie hätte das Wort »eigentlich« nicht benutzen dürfen. Es verhielt sich wie ein Chamäleon und relativierte je nach Zusammenhang eine Aussage. Aber Tammy meinte, noch etwas anderes zu bemerken. Sie hatte das Gefühl, dass Berger etwas loswerden wollte.
»Ich muss oft daran denken, wie du im vergangenen Jahr am Gedenkstein für Georg Rackert beim Gifizsee in Tränen ausgebrochen bist. Seither haben wir uns nicht mehr gesehen. Erinnerst du dich noch? Wie lange ist das jetzt her?«
»Etwas mehr als ein halbes Jahr.«
»Wir waren alle erschüttert: die Schwester von Georg, ihr Partner, du – natürlich auch ich. Ich hätte dich damals gerne etwas gefragt. Aber ich habe nicht den Mut gehabt.«
»Hast du jetzt den Mut?« Sie konnte sich vorstellen, was er fragen wollte.
»Seid ihr tatsächlich ein Paar gewesen, wie im Dienst gemunkelt wurde?«
Warum wollte er das ausgerechnet jetzt wissen? Waren seine Schuldgefühle der Grund? Sie ließ lange mit der Antwort auf sich warten, schnitt ein dunkles Brötchen auf, bestrich es sorgfältig mit Butter und belegte es mit einer Scheibe Bergkäse, biss hinein und kaute betont langsam, bevor sie aufsah. Ihre Augen hatten einen wässrigen Schimmer.
Er hätte sie nicht so direkt fragen dürfen, warf sich Berger vor. Das war kein gelungener Beginn ihres ersten Treffens nach so langer Zeit. Was hatte ihn geritten, eine so intime Frage zu stellen? Gerade wollte er sich entschuldigen, doch da hob sie zu einer Antwort an.
»Das hat dich wohl sehr beschäftigt. Wenn du mich siehst, kommt dir gleich Georg in den Sinn? Du verknüpfst Ereignisse und Menschen und kannst sie nicht mehr trennen. Ist es so?« Sie klang etwas spitz und aufgeregt. »Ja, wir waren ein Paar, wie es viele im Präsidium vermutet hatten. Aber wir haben uns nicht getrennt, denn auch das machte wohl die Runde. So viel zu deiner Frage.« Sie biss wieder in ihr Brötchen und sagte mit vollem Mund: »Wir haben nicht die einfachste Beziehung gehabt. Und wir haben auch nicht zusammengelebt, wie man es von einem normalen Paar erwartet. Jeder hat seine Wohnung gehabt. Seine und meine Eltern haben von unserer Beziehung nichts gewusst. Wir haben uns Zeit lassen wollen. Viel Zeit. Manchmal haben wir uns tagelang nicht gesehen. Und manchmal sogar Wochen. Wie in der Zeit vor seinem Tod.« Sie aß ihr Brötchen vollends auf und wischte sich mit der Serviette den Mund ab.
Berger saß still und geduldig da und wartete ab. Er wollte nichts sagen. Der Schaden, den er soeben angerichtet hatte, war schon groß genug.
»Wenn sich Georg in etwas vergraben hat wie in den Fall der christlichen Terroristen, hat er nichts anderes mehr wahrgenommen. Er hat auf keine Anrufe reagiert, auf keine Mails, auf keine WhatsApp-Nachricht. Nur ein Ziel hat er im Auge gehabt: die Terroristen fassen. Ich habe damals verzweifelt versucht, ihn zu erreichen. Keine Chance. Auch im Präsidium hat er sich in Luft aufgelöst. Auf seine Art ist er ein Fanatiker gewesen. Du hast ihn ja ein Stück weit so erlebt.«
»Ein bisschen. Ich habe ihn aber nicht für fanatisch gehalten, sondern für hartnäckig. Ziemlich hartnäckig sogar. Allerdings habe ich nicht viel von ihm gewusst. Im Dienst haben wir wenig über Privates gesprochen.«
»Als Partner ist er ein faszinierender und liebevoller Mensch gewesen.«
»Entschuldigung.«
»Du musst dich nicht entschuldigen.« Sie wischte sich mit der Serviette die Tränen aus den Augen. Warum hatte Berger ihr diese Frage gestellt, die sie so aufwühlte? Sie verstand sein Verhalten nicht ganz. Fragte er, weil sie nicht zu Georgs Beisetzung eingeladen war? Seine Eltern hatten nichts von ihr gewusst. Oder weil sie damals am Gedenkstein so geweint hatte und beinahe zusammengebrochen wäre? Weil sie beim Blick auf den toten Georg im Amphitheater am Gifizsee scheinbar keine Regung gezeigt hatte? Der Anblick hatte sie geschockt, mechanisch hatte sie ihre Arbeit verrichtet. Zu Hause hatte sie sich auf ihr Bett geworfen und auf das Kopfkissen eingeschlagen, bis es geplatzt war. Sie vermisste Georg. Manchmal schwor sie den Tätern Rache. Solche Gedanken hatte sie früher nie gehabt. Das hätte ihrer Berufsauffassung und ihrem Ethos widersprochen. Aber seit Georgs Tod hatte sich vieles geändert, auch ihre Einstellung zur Rache. Sie wusste, dass Rache nichts anderes war als die bittere Tatsache einer offenen Wunde. Und die Wunde heilte nicht, solange sie an Rache dachte. Aber auch ohne diese Gedanken würde sie sich nicht schließen. Ihr Verstand sagte ihr, dass vollendete Rache vor Gericht als niedriger Beweggrund gewertet wurde. Trotzdem ließ sie die Gedanken immer mehr zu, weil ihre Gefühle etwas anderes sagten. Und ihre Gefühle wurden immer stärker.
Schweigend saßen sich zwei verletzte Menschen gegenüber, aßen ihre Brötchen und tranken ihren Kaffee. Berger kannte diese stummen Szenen von zu Hause. »Stille Messe« nannte das seine Mutter, wenn in der Partnerschaft das Gespräch verstummte.
Nach dem zweiten Brötchen schien sich Tammy gefasst zu haben. Sie erzählte Berger, dass man im Präsidium voller Bewunderung von seiner schnellen Reaktion sprach, nachdem Winker zusammengebrochen war.
»Aber das hätte doch jeder getan«, beschwichtigte Berger.
»Das bezweifle ich. Ich weiß nicht, ob ich das Gerät hätte richtig bedienen können.«
»So schwer ist das nicht. Es erklärt sich fast von selbst. Ich muss jedoch zugeben, dass ich in der Reha Erste Hilfe und die Bedienung des Defibrillators geübt habe.«
»Das hätte ich auch nötig. Jedenfalls sind alle froh, dass Winker durch deine schnelle Hilfe keinen schweren Schaden davongetragen hat. Hoffen wir, dass nichts nachkommt.«
»Wer übernimmt jetzt seine Aufgaben?«
»Vorerst kommissarisch Firner. Übrigens: Zwischen Firner und Winker muss es neulich fürchterlich gekracht haben.« Tammy sprach so, als belaste sie nichts, als hätten sie sich nicht über schmerzhafte Dinge unterhalten. »Winker hat in einer Morgenbesprechung angedeutet, dass er vielleicht bis zu seinem 63. Geburtstag im Dienst bleibt – entgegen seiner ursprünglichen Aussage, vorzeitig mit dem 60. Lebensjahr aufzuhören. Und jetzt will er nichts mehr davon wissen. Da ist Firner wohl der Kamm geschwollen. Alle wissen ja, dass er Kripochef werden will, und zwar möglichst bald. Als dann Winker noch mitgeteilt hat, dass im Offenburger Polizeipräsidium vermutlich in nächster Zeit eine Cold-Case-Gruppe aufgebaut wird, ist Firner geplatzt und hat geschrien, das könne nicht sein in einer Zeit, in der man wenig Personal habe und schwierige Fälle nicht gelöst seien. Und überhaupt frage er sich, wie viele alte Fälle es im Bereich des Polizeipräsidiums Offenburg gebe und ob man die unbedingt in dieser prekären Situation aufklären müsse, in der der Druck auf die Soko so groß sei. Das war natürlich nicht sehr klug. Keiner hätte das von Firner erwartet. Winker hat anscheinend ganz ruhig reagiert und Firner entgegengehalten, dass man alle schwierigen Fälle lösen müsse, auch die der Vergangenheit. Darauf hätten die Angehörigen von Opfern und der Rechtsstaat Anspruch. Es sei gerade für die Angehörigen ungeheuer wichtig, zu wissen, dass der Fall gelöst sei. Das bedeute für sie, Frieden finden zu können. Dutzende schwere Verbrechen im Bereich des Polizeipräsidiums seien bis heute nicht geklärt. Das müsse Firner doch wissen. Dummerweise hat Winker noch einen draufgesetzt und mitgeteilt, dass er in Absprache mit dem Polizeipräsidenten dich zum Chef der Cold-Case-Gruppe machen will.«
»Das hat er mir auch gesagt.«
»Das hat Firner noch mehr in Rage gebracht. Man brauche jeden. Und dass du auf Wiedereingliederung bestehst, hat er überhaupt nicht verstanden. Später hat er wohl in kleinerem Kreis gesagt, wer in dieser schwierigen Zeit nicht auf die Wiedereingliederung verzichte, sei unkollegial und ein Weichei.«
Das