Tote Biber schlafen nicht. Olaf Müller
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Tote Biber schlafen nicht - Olaf Müller страница 3
Jans kleiner Biber-Krieg
»Schlagtrafikundaqua!« Mit diesem Fluch hatte Jan Kulka im Herbst 2017 seinen Gemüsegarten in dem kleinen und lieblichen Ort Falejówka betreten, knapp zehn Kilometer nördlich von Sanok gelegen, eingebettet zwischen sanfte Hügel und Srogów Górny und Raczkowa. Zwei Dörfer von ähnlicher Größe in den Vorkarpaten. Ein kleiner Bach entsprang irgendwo hinter Raczkowa und hatte sich im Laufe der Zeit ein Bett gegraben, das dicht hinter dem Haus von Pan Jan vorbeiführte. Das Wasser diente im Sommer auch für den Garten, in dem Möhren, allerlei Gemüsesorten und Rote Beete blühten und gedeihlich in den Himmel oder, wie bei den Möhren, in die Erde schossen. Bis eines Tages alles verschwunden war, neu gepflanzt wurde und zur Erntezeit wieder auf Nimmerwiedersehen im wahrsten Sinne des Wortes abgetaucht war. »Kurwa!«, brummte damals Jan und hatte auf die Bescherung geschaut beziehungsweise auf die leeren und geplünderten Beete für Kapusta, also Gemüse, auf das Stück Garten, wo gestern noch die Möhren in voller Pracht standen. Die Rote Beete war komplett verschwunden. »Bóbre«, knarzte Jan und blickte auf das Meisterstück der Biber drüben im Bach. Zwischen den Baumstämmen, Ästen und Zweigen hatte er alles entdeckt: Möhren, Kapusta, Rote Beete. Dazwischen einige leere Flaschen Wodka und Bierpullen der Marken »Tatra«, »Tyskie« und »Lech«. Jan Kulka ging zum Traktorschuppen, startete an diesem Oktobertag den sorgsam gepflegten »Ursus«, ein zuverlässiges Modell aus kommunistischen Zeiten, und tuckerte an den Rand des Baches. Er klinkte das Stahlseil ein, rammte den kiloschweren Haken in den Biberdamm und schaltete den Ackergang ein. Nur mit Mühe gelang es ihm, dieses Wunderwerk animalischer Baukunst zu zerstören. Das Wasser schoss durch die Lücke. Jan hoffte inständig, dass die Biber sich nun eine andere Stelle zum Bau aussuchen würden, damit er endlich wieder sein eigenes Gemüse essen konnte. Dass er, ein Bauer, im Supermarkt »Biedronka« in Sanok Gemüse kaufen musste, war ihm in diesem Herbst hochnotpeinlich. Doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er wie Sisyphos den Stein immer wieder hochwälzen würde, mit anderen Worten, dass auch am nächsten Tag die verbliebenen Apfelbäume im Garten des Nachbarn ruckzuck von den Bibern für die Reparatur genutzt werden würden. Langsam reifte eine für die Bóbre, die Biber, tödliche Idee. Schluss mit Sisyphos, könnte man sagen. »Arrest!«, rief er im November zu Bombel, der Promenadenmischung, die am Abend wie immer das Haus verlassen wollte, um einen Kontrollgang zu machen. Auch für die Katze, eine Mischung aus Straße und Siam, hieß es: »Arrest!« Sie schaute Jan verdutzt an, den Kopf schief gelegt, so ganz schien sie nicht verstanden zu haben. »Alle Tiere bleiben heute Abend und heute Nacht im Haus. Das ist ein Befehl«, hatte Jan zu seiner Ehefrau Danuta gebrummt, die spürte, dass Jan wieder eine besondere Idee ausgebrütet hatte. Besser nicht fragen, dachte sie und sperrte Bombel und die Katze ins Wohnzimmer, wo beide sich irritiert anschauten, beschnüffelten und dann einen gemütlichen Platz auf dem Sofa eroberten, wo sie sonst unter Strafe nicht mal die nasse Schnauze drauflegen durften.
Jan verließ kurz vor Einbruch der Dunkelheit mit einem meterlangen Elektrokabel das Haus in Richtung Bach. Mitten in der Nacht kam es zu einer Art Verpuffung, und die alte Porzellansicherung flog in hohem Bogen aus der Fassung. Jan lächelte. Hoffentlich hatte es nicht den Nachbarn erwischt, der ab und an tief in der Nacht mit versetztem Schritt aus der Dorfkneipe am Bach entlang torkelte und unter der Erdanziehungskraft litt. Es war nicht der Nachbar gewesen. Es war … Im Morgengrauen, nachdem er die Sicherung wieder eingebaut hatte, schnappte Jan den Spaten seines Vaters und ging bis zum Ende des Elektrokabels in der Nähe des Baches, wo er Flaschen und Äste abgelegt hatte. An den offenen Enden der Kabel lag wie schlafend ein Prachtexemplar mit versengter Schnauze. Mit kräftigen Spatenstichen hob Jan blitzschnell eine Grube aus. Bevor die Sonne aufging, erinnerte nichts mehr an diese Art eines elektrischen Stuhls. Fortan wurde im Bach, dicht bei Jans Haus, kein Damm mehr gebaut. Dafür 100 Meter weiter bachabwärts beim Nachbarn, dem mit dem versetzten Schritt. Mit anderen Worten, das Biberproblem bei Jan Kulka war damals gelöst worden, hatte sich aber nur verlagert. Letztlich warteten die Vorkarpaten immer noch auf Haberstock aus Deutschland. Den Biberpapst aus Aachen.
Tödliche Abzweigungen
Haberstock hatte Flugangst, besaß kein Auto, und mit dem Zug würde die Reise zwei Tage dauern. Er stieg in den Fernbus Richtung Krakau und überquerte bei leichtem Schneefall in Görlitz die Grenze. Dann ging es auf der A 4 an Wrocław, also Breslau, entlang in Richtung Kattowitz. Von da aus war es ein Katzensprung zur ehemaligen Hauptstadt Polens, dem schönen Krakau. Wäre da nicht der Autobahnabzweig nach Oświęcim: Auschwitz. Nachdenklich hing er in seinem Fenstersitzplatz. Was war sein Vater im Zweiten Weltkrieg? Schweigen. Das große Schweigen. Nie hatte er mit ihm darüber gesprochen. Erst nach dem Tod seiner Mutter entdeckte er Unterlagen über seinen Vater Egon, an den er sich nicht erinnern konnte, weil er so früh aus seinem Leben verschwunden war. Unterlagen über dessen Zeit als Soldat. Ein Foto in schwarzer Uniform. Der Name Stroop schoss ihm durch den Kopf. SS-Panzergrenadier- und Ausbildungsbataillon 3 in Warschau. Dann muss sein Vater um Versetzung gebeten haben. Ein Foto von ihm. Auf dem Kragenspiegel links SS-Runen, rechts ein Totenkopf. Ihm grauste. Er wollte es nicht wissen. Als er klein war, da kamen Herren zu Besuch. Sie zogen sich mit Mutter zurück. Manchmal horchte er an der Tür: Warschau, Ghetto-Aufstand, Versetzung, Kamerad Haberstock, Führer, Vaterland, Argentinien, Mengele, Höß, Rudel, Eichmann. Seine Mutter hatte leise und still gelitten. Vater wurde vermisst. Wie so viele. Haberstock wuchs ohne ihn auf. Nun passierte er die Ausfahrt nach Auschwitz. Die Historiker und Politologen der Philosophischen Fakultät sprachen immer wieder über Auschwitz und das kollektive Gedächtnis, über den Holocaust, die Shoa. Haberstock wollte sich damit nicht auseinandersetzen. Sein Zuhause war die Biologie, genauer gesagt, die Familie der Biber. Bereits als kleiner Junge war er an den Bächen und Flüssen der Eifel auf der Suche nach Biberspuren gewesen. Er war damals die Rur entlang geradelt, warf seinen Blick auf die Bäume am Ufer und krachte oft mit anderen Radlern zusammen. Sein Blick galt den Bibern. Diese Nager, diese possierlichen Tierchen, wie Loriot einst sagte, sie wurden der Kern seiner Forschung. Er, Haberstock, war die Biberkoryphäe in Europa. Wäre doch gelacht, wenn er den Polen nicht helfen könnte. Vortrag und Ortsbesichtigung in Lesko und Cisna am Fluss Solinka; er würde rasch die geeigneten Maßnahmen und Methoden vorschlagen und darüber dann einen Aufsatz schreiben.
Kurze Zeit später tauchte die Abfahrt Krakau-Zentrum auf. Seine Nachbarin im Bus, die erzählfreudige Doktorandin Agnieszka Globus aus Krakau mit ihren langen schwarzen Haaren, empfahl ihm die Sehenswürdigkeiten. Sie stammte, wie sie mit einem leicht polnischen Akzent sagte, aus der Stadt an der Weichsel, promovierte in Göttingen an der Fakultät für Agrarwissenschaften und sollte eines Tages den Kleinbauernhof ihrer Großeltern in der Nähe von Krosno zu einem Musterbetrieb für biologische Landwirtschaft entwickeln. Das erzählte sie dem liebenswerten alten Herrn Professor, der seine väterlichen Augen nicht von ihr wenden konnte, auch nicht von ihrem knappsitzenden T-Shirt unter dem wärmenden Mantel und der hautengen Lederhose. Sie schwärmte mit Begeisterung und Freude von den Tuchhallen, dem Wawel, den Planty, der Universität und dem jüdischen Stadtviertel Kazimierz. Dort habe Steven Spielberg einst Szenen für »Schindlers Liste« gedreht. Dort finde jedes Jahr im Sommer ein jüdisches Kulturfestival statt. Haberstock müsse einfach im Sommer wiederkommen und nicht im Februar. Im Sommer, vor der Marienkirche,