Rhöner Nebel. Friederike Schmöe
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Читать онлайн книгу Rhöner Nebel - Friederike Schmöe страница 14
Anja schluckte. Sie starrte auf Katinkas Füße. Die fühlte das Bedürfnis, mit den Zehen zu wackeln.
»Also blieben Tobias und Kirsten allein übrig. Die beiden verliebten sich. Und? Wo war das Problem?«
»Es gab kein Problem«, erwiderte Anja heiser.
»Tobias und Kirsten verstanden sich später nicht mehr so gut. Die Abgeschiedenheit, der Umstand, dass für beide ein neuer Lebensabschnitt in einer fremden Umgebung begann, führte sie zu Beginn zusammen. Nach einer Weile trug das nicht mehr.«
»Kirsten war wie ich im pädagogischen Dienst. Sie wollte später vielleicht Theaterpädagogik studieren. Ihre Mutter war Dramaturgin am Theater in Würzburg.« Anjas stieß sich vom Fenster ab, setzte sich aufs Bett. Nachdenklich strich sie über die Decke. »Fühlt sich genauso an wie damals. Dicke Federbetten. Die haben mich anfangs erdrückt. In den kalten Winternächten war ich doch sehr dankbar darum. Die Heizung funktionierte zwar gut, aber sie wurde ab zehn Uhr abends ausgestellt und sprang erst morgens um fünf wieder an.«
Katinka wartete. Waren Menschen erst einmal ins Reden gekommen, hörten sie so schnell nicht mehr auf.
»Kirsten verguckte sich ziemlich schnell in Tobias. Zuvor hatte sie eine harte Trennung von ihrem vorherigen Freund vollzogen. Dann knallte es schnell wieder.«
»Sie verstanden sich gut, Sie beide?«
»Total. Wie Seelenverwandte. Ich musste nur ein Thema antippen, sofort stimmte Kirsten ein. Wir empfanden die Welt beide gleich. Wollten etwas besser machen. Raus aus der Enge des Elternhauses. Bei mir war es der dominante Vater, der zu viel verbot. Für Kirsten war es anders: Ihre Mutter war antiautoritär eingestellt. Sie feierte viele Erfolge in ihrer Theaterwelt, hatte unzählige Freunde und Bewunderer, war stets von kreativen Typen umgeben. Kirsten verspürte den inneren Zwang nachzuziehen, sich beweisen zu müssen. Dass sie auch etwas schaffte. Auf einem anderen Gebiet als die Mutter.«
Katinka dachte, dass junge Menschen um die 20 sich alle endgültig von ihrem Elternhaus lösen, ihren eigenen Weg finden mussten. Der Erfolg bestand ja gerade darin, es ohne Hilfe zu schaffen. Vom Innenhof drang Stimmengewirr herauf. Eine Wolke verschleierte kurz die Sonne.
»Kirsten hatte das Zimmer, in dem Sie jetzt wohnen. Ich dieses. Wir beide lebten allein auf diesem Stock, die anderen Zimmer waren schon nicht mehr bewohnt. Ich fürchtete mich oft, wenn ich bei Kirsten im Zimmer saß und spät nachts zu mir rüber wollte. Bloß über den Gang zu gehen, war unheimlich.«
»Das Ehepaar Krone, wo wohnten die?«
»Im anderen Haus, bei den älteren Schülern. Sie hatten eine eigene große Wohnung. Luden die Kollegen ab und zu ein, zu Bier und Brotzeit. Ab der Oberstufe gab es keine Schlafsäle mehr, die Schüler wohnten in Zweibettzimmern, hatten sogar eine kleine Teeküche zur Verfügung.«
»Und hier im Haus?«
»Im ersten Stock befanden sich das Direktorat mit Vorzimmer, außerdem die Schwesternzimmer. Da hat sich bis heute nichts verändert. Allerdings gab es noch einen Mädchenschlafsaal auf der ersten Etage. Die Jungen der Unter- und Mittelstufe verteilten sich über den dritten Stock. Sechs Kinder pro Schlafsaal. Kirsten und ich waren morgens für das Wecken zuständig. Wenn wir die Nacht durchdiskutiert hatten, über Gott und die Welt, schleppten wir uns halb tot um 6.15 Uhr nach oben. Oder nach unten.« Sie lachte auf. Allmählich nahm ihr Gesicht wieder Farbe an.
»Es muss doch noch andere Angestellte gegeben haben.«
»Die wohnten nicht hier. Nur Gitta und Manfred Krone und wir Freiwilligen. Die Küchenangestellten kamen alle aus der Umgebung. Eine Frühschicht war für das Frühstück zuständig, die traten ihren Dienst um fünf Uhr morgens an. Mittags wurde warm gekocht. Wenn Schüler später aus der Schule kamen, wärmten sie sich meistens selbst etwas auf, das waren ohnehin die Älteren, die machten das selbstständig. Die letzte Küchenhilfe verließ das Internat gegen 16 Uhr, zu der Zeit war das Abendbrot bereits auf den Servierwagen gerichtet. Die Pädagogen kamen gegen zwölf. Sie betreuten die Hausaufgaben, machten Freizeitangebote. Deren Spätschicht endete gegen 22 Uhr.«
»Wo war Gebsen untergebracht?«
»Drüben, im anderen Haus. Da ist auch die Hausmeisterwohnung.« Anja hatte sich durch die umständlichen Ausführungen ein wenig beruhigt. Katinka wartete eine Weile. Schließlich fragte sie:
»Und Kirsten? Warum starb sie?«
Anja hob den Blick. Tränen standen in ihren Augen, als sie Katinka ansah und entgegnete:
»Das weiß ich nicht. Niemand weiß das. Wirklich nicht.«
*
14.
Anja war nach dem Frühstück in den Schülerbus gestiegen und mit nach Mellrichstadt gefahren. Martin hatte die ersten beiden Stunden frei. Geschenkte Zeit für sie beide von acht bis halb zehn. Sie hatten sich in einem Stehcafé beim Bäcker in der Nähe des Bahnhofs verkrochen. Zweites Frühstück. Cappuccino und Quarkschnecke. Ein paar Küsse. Eilig, peinlich berührt, wenn jemand das winzige Café betrat. Geflüsterte Gespräche, damit die Bäckerin nichts mithörte.
Sie waren beide volljährig, aber vor allem Anja hatte keine Lust auf Gerede. Im Internat konnten sie sich höchstens in ihrem Zimmer treffen, natürlich hinter dem Rücken der Nonnen. Zum Glück mussten sie die Heimlichkeiten nur noch für kurze Zeit durchhalten. Ende Mai würde Martin das Abi in der Tasche haben, Anja Ende Juli ihr FSJ beenden. Danach hätten sie ausreichend Zeit füreinander.
Dennoch fühlte Anja sich niedergeschlagen, als sie kurz vor halb zehn durch die leeren Straßen zum Bahnhof hinüberging. Irgendwie bedrückte sie zu vieles in letzter Zeit. Die böse Einsamkeit schlich feixend heran. Mellrichstadt gab nicht viel her. Grenzland eben. Man war abgehängt hier oben. Der Frühling ließ auf sich warten. Der Wind trieb ein paar Schneeflocken vor sich her. Dabei stand Ostern vor der Tür. Ob das Wetter sich endlich drehte? Sie hatte keine große Lust, zu ihren Eltern zu fahren. Das stete Schweigen zwischen den beiden, das stille Leiden der Mutter, die unterdrückte Wut des Vaters, worauf auch immer, konnte sie kaum aushalten.
Am Bahnhof zerrte sie das Rad, mit dem Martin gestern zur Schule gefahren und das er für sie hier abgestellt hatte, aus einem Pulk anderer Drahtesel. Sie stülpte die Kapuze über den Kopf und schlüpfte in ihre Handschuhe. In einer Stunde wäre sie im Internat. Sie fröstelte. Ein warmes Bad könnte sie dann gebrauchen. Bestimmt hätte sie Zeit dafür, bis die ersten Schüler gegen eins zurückkamen. Dummerweise hatte sie heute Nachmittag Sportaufsicht. Kirsten war krank, und auch Anja spürte ein leichtes Kratzen im Hals. Sie schwang sich auf den eiskalten Sattel. Verdammt! Dieser Winter musste endlich aufhören, der stets wolkenverhangene Himmel aufbrechen. Sie sehnte sich nach Sonnenschein. Wo sie nächstes Jahr um diese Zeit wohl sein würde? Sie hatte sich bereits nach Studienplätzen umgesehen. Deutsch für Lehramt wollte sie studieren, was das zweite Fach betraf, hatte sie bislang keine Entscheidung getroffen. Geschichte würde sie interessieren, Politikwissenschaft oder Geografie. Das Problem, dachte sie, während sie langsam aus der Stadt hinausradelte, sich gegen den Wind lehnend, besteht darin, dass man sich gegen so viele spannende Dinge entscheiden muss.
Aber der Beruf Lehrerin, der sollte es sein. Ihr Vater würde toben. Insofern tat ihr der Abstand zu daheim und besonders zu ihrem Vater gut. Im Internat