Schönbrunner Finale. Gerhard Loibelsberger
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Читать онлайн книгу Schönbrunner Finale - Gerhard Loibelsberger страница 16
Husak ließ sich treiben. Da er sich in der fremden Stadt nicht auskannte, hatte er mehrmals Einheimische fragen müssen, wo es denn da zum Wurstelprater ginge. Dieses Wiener Freizeit- und Vergnügungsviertel war sein Ziel. Viel hatte er schon davon gehört, jetzt wollte er es auf eigene Faust erkunden. Ohne Zach. Denn den verstand er im Moment überhaupt nicht. Wie konnte ein Mensch bei seinen Handlungen und seinem Denken so sehr vom Sexualtrieb gesteuert werden? Zach war der Köchin, die ironischerweise Innozenzia hieß, obwohl sie alles andere als ein Unschuldslamm war, völlig verfallen. Er verbrachte die meiste Zeit in ihrem Bett, während Husak in der Küche gesessen und sich fadisiert70 hatte. Wenigstens kochte Zenzi Tschiritsch erstklassig. Und da Zach ihr ausreichend Geld zum Einkaufen gegeben hatte, konnten sich die beiden Kameraden in den letzten Tagen regelmäßig den Bauch vollschlagen. Dazwischen hatte Husak die Zeit mit viel Schlaf, gelegentlichen Spaziergängen über den Naschmarkt sowie Besuchen im Gasthof Zur Bärenmühle verbracht. Er hatte auf der Küchenbank geschlafen, während Zach drinnen in Zenzis Bett nächtigte. Was Zach an der Alten so anziehend fand, war ihm rätselhaft. Wie wild trieben es die beiden zu jeder Tages- und Nachtzeit. Für Husak, der die Vorstellung intimer Berührungen mit der schon etwas überwuzelten Zenzi so verlockend fand wie den Kontakt mit einem eiskalten nassen Waschlappen, ging das in Ordnung. Als sich aber heute Morgen die Zenzi neben ihn auf die Küchenbank gesetzt und ihren vom Nachthemd unverhüllten Schenkel an den seinen gepresst hatte, war er äußerst unangenehm berührt gewesen. Völlig verschlafen hatte er es einfach geschehen lassen. Auch deshalb, weil er sich nicht sicher war, ob es ein Annäherungsversuch oder morgendliche Unbekümmertheit war. Dumpf vor sich hin stierend hatte er seinen Kaffee geschlürft. Plötzlich war sie aufgestanden und zur Brotlade gegangen. Dort hatte sie ein Stück Brot abgeschnitten, es mit Butter bestrichen und vor ihn hingestellt. Dabei hatte sie sich so weit vorgebeugt, dass − bedingt durch den weiten Ausschnitt ihres Nachthemds − ihre Brüste vor seiner Nase baumelten. Und das auf nüchternen Magen! Er war aufgesprungen und hatte gezischt:
»Kannst dir nicht anzieh’n was Anständiges?«
»Wieso, g’fallt dir nicht, was du da siehst?«
»Geh zum Zach!«
»Der Zach muss sich ausruh’n. Drum hab’ ich mir gedacht, dass wir zwei vielleicht ein bisserl …«
»Fahr ab! Mit dir möcht’ i nix zu tun ham!«
»Na geh! Sei net so! Ein bisserl pudern71 hat noch niemandem geschadet.«
Das war das Letzte, was Husak hören wollte. Voll Panik hatte er seine Jacke und seinen Hut gepackt und die Flucht ergriffen.
Er kam auf einen weiten Platz, in dessen Mitte sich eine riesige, mit Schiffen verzierte Säule befand. Auf ihr stand die Skulptur eines Mannes mit Rauschebart und Marschallstab in der Hand. »›Wilhelm von Tegetthoff‹«, las Husak am Sockel und zuckte mit den Achseln. Irgend so ein österreichischer Militär. Hinter dem Tegetthoff-Denkmal erstreckte sich ein gewaltiges Bauwerk im neugotischen Stil. Neugierig ging Husak darauf zu. Es herrschte reges Kommen und Gehen. Plötzlich pfiff eine Lokomotive. War das ein Bahnhof? Husak beschleunigte seinen Schritt. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals und es ging ein Zug nach Prag? Seine Hände wurden feucht, und im Laufschritt stürmte er in die riesige Halle. Er erstarrte. Ja, er war am Bahnhof. Am Nordbahnhof, wie er las. Von hier gingen Züge nach Prag. Was seine freudige Erregung aber augenblicklich abwürgte, war die Tatsache, dass sich in der Bahnhofshalle nicht nur zahlreiche Uniformträger, sondern auch eine Gruppe Feldgendarmen aufhielten. Ausgerechnet vor den Kassen! Er beobachtete sie eine Zeit lang, bis ihn plötzlich einer der Feldgendarmen scharf ansah. Husak wendete seinen Blick ab, machte auf dem Absatz kehrt und verließ gemächlichen Schrittes den Nordbahnhof. Sobald er draußen war, begann er zu rennen. Himmel! Herrgott! Hoffentlich verfolgte ihn der Feldgendarm nicht. Im Zickzack hastete er durch die Menschengruppen, die sich am Praterstern aufhielten. Erst bei den Vergnügungsbuden des Wurstelpraters verlangsamte er seinen Schritt. Nicht, ohne sich ständig umzudrehen und zu schauen, ob ihm jemand folgte. Schließlich atmete er tief durch und begann, entspannt zu schlendern. Er hatte gehört, dass es hier eine Dame ohne Unterleib gäbe. »Gehen S’, die gibt es schon lang nicht mehr«, grantelte ein alter Mann, den er fragte. »Die arbeitet jetzt wahrscheinlich in einer Munitionsfabrik.« Auch die berühmt-berüchtigten Ausrufer vor den Praterbuden waren verschwunden. Statt ihrer standen schwächliche, traurige Burlis vor den Attraktionen, denen es weder gelang, das Publikum zu animieren, noch zu unterhalten. Na ja, die Männer, die das einst gemacht haben, befinden sich wahrscheinlich in einem Schützengraben oder bereits im Grab, räsonierte Husak, während er durch einen melancholisch gewordenen Wurstelprater schlenderte. Lärm, Gedränge, Übermut und überschäumende Lebensfreude, von denen er so oft gehört hatte, waren nirgends zu finden. Ziellos wanderte er umher, doch die von ihm gesuchten Lustbarkeiten fand er nicht. Etliche Buden waren geschlossen, eigentlich hatte er sich den Wurstelprater amüsanter vorgestellt. Seine Enttäuschung reagierte er beim Watschenaff’72 ab. Mit voller Kraft verabreichte er ihm ein paar saftige böhmische Ohrfeigen. Dabei dachte er an den Oberleutnant Weissenbacher und den Major Novotny. Schließlich gelangte er zu einem Gastgarten, der rundum von einem Holzzaun umgeben war. Hinter der Abzäunung erklang laute Musik. Zwischen den Holzlatten war an einer Stelle eine Lücke, vor der sich eine Schar zerlumpter Kinder drängte, die neugierig hineinspähte. Na bitte! Musik, Spektakel, Attraktionen. Endlich hatte Husak einen Ort gefunden, wo er sich amüsieren konnte. Er zahlte Eintritt und schlenderte in den weitläufigen Gastgarten, in dem unzählige Holztische mit Bänken standen. Etwa die Hälfte war besetzt. Vor allem vor der Bühne des Etablissements drängten sich die Menschen. Husak suchte sich einen Platz, von dem aus er eine gute Sicht hatte. Auf der Bühne klimperte ein verhungert aussehendes Mädchen auf Klaviertasten herum. Husak bestellte ein Krügel Bier, sie führten hier Pilsner Urquell, und lauschte der Pianistin. Na ja. Er hatte in seinem Leben schon virtuoseres Klavierspiel gehört. Aber nach über vier Jahren Krieg war er mittlerweile gewohnt, sich mit dem zu begnügen, was er vorgesetzt bekam. Das Bier wurde serviert und Husak nahm einen großen Schluck. Nach seiner Flucht aus dem Nordbahnhof, bei der er beträchtlich ins Schwitzen gekommen war, war es ein besonderer Genuss.
Plötzlich überkam ihn Heimweh. Er dachte an Prag und an sein Lieblingsbeisl. Beim Gedanken an das dunkle Prager Bier, das dort gezapft wurde, traten ihm die Tränen in die Augen. Vor allzu großer Sentimentalität bewahrte ihn das Programm, das nun auf der Bühne begann. Es war dumm und derb, aber trotzdem eine willkommene Ablenkung. Husak trank sein Bier aus, und da ja laut Verordnung nur ein Krügel pro Gast ausgeschenkt werden durfte, bestellte er sich nun ein Viertel Wein. Der Wein schmeckte ihm, die Sonne blinzelte durch das Blätterdach der Bäume des Gastgartens, und plötzlich schien alles nicht mehr so schlimm zu sein. Er hatte noch immer genügend Geld in der Tasche und er wusste nun, von wo die Züge nach Prag abfuhren. Seine Gedanken schweiften ab, und er überlegte, wie lang er schon keine Frau mehr gehabt hatte. Er erinnerte sich an seinen letzten Besuch im Feldbordell. Eine ziemlich degoutante Angelegenheit! Und es wurde ihm klar, warum ihn die Zenzi so abstieß. Sie hatte nämlich Ähnlichkeit mit der