Grillparzerkomplott. Hermann Bauer
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Kapitel 2
»Ich soll also bei dir leben, bis ich meine Wohnung beziehen kann?«, fragte Sabine Patzak.
»Fällt dir etwas Besseres ein?«, antwortete Thomas Korber mit einer Gegenfrage.
»Ich könnte auch wieder beim Papa wohnen.«
Korber druckste herum. »Bei mir ist es problemloser. Du hast mehr Platz und ein eigenes Zimmer«, führte er ins Treffen. »Außerdem kann dich dein Vater nicht so gut kontrollieren. Der spürt dir sonst wieder auf Schritt und Tritt nach.«
In Wahrheit musste sich Korber eingestehen, dass er in Leopolds Tochter Sabine verliebt war. Wie aus dem Nichts war sie aus ihrem burgenländischen Heimatort Halbturn im Frühsommer in Wien aufgetaucht, um Leopold nach 21 Jahren mitzuteilen, dass er ihr Vater sei. Leopold hatte es zunächst nicht geglaubt, dann aber starke väterliche Gefühle für sie entwickelt. Mit seinem Freund, dem Gymnasiallehrer Thomas Korber, hatte sie sich ohne sein Wissen auf eine kurze Affäre eingelassen, ehe sie wieder nach Hause gefahren war. Nun war sie Anfang Oktober zurückgekehrt. Sie hatte an der Universität Wien inskribiert, um ein Lehramtsstudium für Deutsch und Englisch zu absolvieren. Ob sie bis zum Bezug ihrer ständigen Bleibe bei Korber wohnen wollte, wie es beide vor ihrem Abschied noch angedacht hatten, dessen war sie sich nicht mehr so sicher.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wenn der Papa da draufkommt!«
»Dann kommt er eben drauf. Du bist erwachsen und kannst tun und lassen, was du willst«, versuchte Korber weiterhin, sie zu überreden.
»So einfach ist es nicht«, konterte Sabine.
»Vor einer Woche am Telefon waren wir uns noch einig«, erinnerte Korber sie.
»Ich fühle mich schäbig. Ich hätte Papa darüber informieren müssen, dass ich zum Studieren nach Wien komme«, plagten Sabine Gewissensbisse.
»Als du das letzte Mal hier warst, hat er nicht einmal gewusst, dass du seine Tochter bist«, gab ihr Korber zu bedenken. »Da hast du dir auch keine Vorwürfe gemacht.«
Beide standen noch immer im Vorzimmer von Korbers Wohnung, wo Sabine Patzak ihre Reisetasche vorläufig abgestellt hatte. »Im Augenblick ist alles ungewohnt. Bei Erika und beim Papa habe ich mich damals schnell eingelebt«, überlegte sie.
»Mein Vorschlag: Du bleibst fürs Erste hier«, drängte Korber auf eine Entscheidung. »Du kannst immer noch zu Erika und Leopold wechseln.«
»Und ihnen sagen, dass ich von dir komme?«
»Natürlich nicht! Du hast bei einer Freundin gewohnt, zum Beispiel bei Natalie, mit der du mich bei deinem letzten Aufenthalt besucht hast. Mach doch nicht alles so kompliziert!«
Sabine seufzte. »Papa kommt mit seinem detektivischen Gespür sicher drauf. Dann ist er für alle Ewigkeit auf dich und mich böse. Aber ich riskier’s unter einer Bedingung: Du vergisst, was kurzzeitig zwischen uns war, und wir bilden eine ganz normale Wohngemeinschaft. Dann hole ich meine restlichen Sachen aus Halbturn und ziehe in ein paar Tagen bei dir ein.«
»Selbstverständlich«, stimmte Thomas Korber zu. Er sah ein, dass im Augenblick nicht mehr drin war. So hatte er Sabine wenigstens in seiner Nähe.
Sabine wiederum wusste, dass sie sich auf eine heikle Sache eingelassen hatte. Sie war sich über ihre Gefühle Thomas Korber gegenüber nicht im Klaren. Einerseits mochte sie ihn sehr, andererseits wollte sie sich keinesfalls an ihn binden, schon gar nicht am Beginn eines Studiums. Studentin sein hieß doch, unbegrenzte Freiheiten zu haben und sich einfach auf Erlebnisse und Bekanntschaften einzulassen.
Sie hatte dabei vor, ihren Vater Leopold möglichst oft zu sehen. Sie freute sich schon auf ihn und seine Freundin Erika. Sie freute sich auch auf das Café Heller, in dem er arbeitete. Vielleicht durfte sie dort wieder einmal aushelfen. Und wenn sie Glück hatte, war ihr Vater sogar wieder mit der Aufklärung eines Verbrechens beschäftigt.
*
Katja Winkler saß in ihrem großen Fernsehsessel. Jetzt, wo sie dem Alkohol bereits über das verträgliche Maß zugesprochen hatte, ergriffen die Ereignisse aus der Vergangenheit wieder Besitz von ihren Gedanken. So muss es sein, wenn man stirbt, dachte sie. Das ganze Leben zieht in wenigen Zehntelsekunden an einem vorüber. In diesen Momenten dauerte es freilich etwas länger, und sie musste feststellen, dass ihre Erinnerung lückenhaft war.
Es gab zwei Brennpunkte in ihren Träumereien. Da war einerseits ihre Karriere als Schauspielerin und Bühnenliebling. Im Burgtheater und in der Josefstadt hatte sie nicht gespielt, aber sonst beinahe überall in Wien. Die Leute hatten sie fest ins Herz geschlossen. Der Applaus klang ihr noch immer in den Ohren, und sie roch den Duft der Blumen, die sie von ihren zahlreichen Verehrern bekommen hatte. Viele davon hatten eine oder mehrere Nächte mit ihr verbracht.
Dann der andere Brennpunkt: der Unfall, der komplizierte Bruch. Trotz Operation war der Fuß im Eimer gewesen, die Bühnenkarriere damit beendet. Hätte ich damals nicht gleich sterben können, fragte sie sich. Denn was war aus ihrem Leben anderes geworden als ein einziges Warten auf den Tod? Sie saß in ihrer Wohnung, lebte in der Vergangenheit und schaute sich ihren Schmuck an. Manchmal ging sie ins Schopenhauer, damit sie unter Leute kam. Dort gafften sie dann ein paar ältere Männer an, wenn sie sich allein an einen Tisch setzte. Die Auswahl war nicht gerade berauschend. Katja Winkler war immer noch attraktiv, sie pflegte sich, und der Alkohol hatte kaum sichtbare Spuren hinterlassen. Aber Männer von Qualität bekam sie keine mehr. Sie hatte es zuletzt deutlich bei diesem netten Oberkellner gemerkt.
Freunde oder Bekannte gab es praktisch keine, das Verhältnis zu ihrer Tochter war schlecht, genauso wie das zu ihrem Ex-Mann. Katja meinte deshalb, allen Grund zu haben, auf die Welt böse zu sein und anderen Menschen Böses anzutun. Bei ihren Reisen in die Vergangenheit erinnerte sie sich in erster Linie an Zwistigkeiten, Eifersüchteleien und Zerwürfnisse. Darauf gründete sie ihre Aktivitäten. Hier hatte sie etwas, wo sie anderen Menschen das Leben schwer machen konnte.
Gerechtigkeit durfte man nicht verlangen, niemand hatte Anspruch darauf. Aber jeder Mensch hatte die Möglichkeit, böse Dinge, die ihm widerfahren waren, durch ähnliche Gemeinheiten auszugleichen. Diese Dinge beschäftigten Katja, wenn sie abends zu Hause bei einer Flasche Rotwein saß. Im Kopf war sie noch sehr aktiv, und sie hatte in genug Dramen mitgewirkt, um sich ihre eigenen auszudenken.
Den Betroffenen gefiel das ganz und gar nicht. Aber darauf konnte Katja Winkler keine Rücksicht nehmen. Strafe musste eben sein.
*
Der Wind wurde in diesen Tagen heftig und kühl. Es war der erste Temperatursturz Anfang Oktober, der das Ende des Sommers einläutete und den Herbst ankündigte. Urteilte man nach den Gesichtern der Menschen an diesem Vormittag im Café Schopenhauer, so stand bereits der Winter vor der Tür. Grimmig sahen sie drein, als würden sie gegen eine unmittelbar bevorstehende Erkältung ankämpfen. Mancher trug bereits einen Schal um den Hals. »Ist denn gar nicht eingeheizt?«, fragte ein Glatzkopf mit Drahtbrille und weißem Vollbart vorwurfsvoll.
»Gleich drehen wir die Heizung auf«, beruhigte ihn Herbert Bäcker, wobei er mit ›gleich‹ bewusst ein Adverb mit höchst nebuloser Bedeutung verwendete. Er hatte nicht vor, sich wegen eines griesgrämigen Gastes in Unkosten zu stürzen. Auch ein heißer Tee wärmte.
David Panozzo schaute nicht gern in die Gesichter dieser mieselsüchtigen Gäste. Wo er konnte, wich er ihnen aus. Am liebsten stand er an so einem Tag hinter der Theke und blickte melancholisch zum Fenster hinaus,