Blutheide. Kathrin Hanke
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19.23 Uhr
Er knöpfte sich seine Jeans zu und drückte die Spültaste. Hier hatte sich in den letzten acht Jahren tatsächlich nichts verändert. Es standen sogar noch dieselben bekloppten Klosprüche an den Kacheln über dem Pissoir. Und es waren ein paar neue hinzugekommen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu entfernen. Einer war mit Bene unterschrieben. Er stammte von ihm selbst. ›Julie forever! Bene 2003‹ hatte er damals mit einem fetten Edding aus Jux an die Wand gekliert. Er konnte sich noch gut daran erinnern. Kurze Zeit später hatte er Lüneburg den Rücken gekehrt und sein Glück in Berlin gesucht. Ohne Julie. Bene drehte sich in dem engen Raum zum Waschbecken um und wusch sich die Hände.
Was wohl aus Julie geworden war? Sicher lebte sie immer noch in dem kleinen Häuschen im Stadtteil Oedeme, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Ob sie ’ne feste Beziehung hatte oder sogar verheiratet war? Was sie wohl sagen würde, wenn sie erfuhr, dass er wieder hier war? Er war sich selbst nicht sicher, was er davon halten sollte, aber das Angebot vom Hotel Heideglanz war einfach zu verlockend gewesen, um es auszuschlagen. Morgen würde er den neuen Job antreten und den reichen Gästen seine Cocktail-Variationen kredenzen. Bisher hatte er noch niemandem Bescheid gegeben, dass er seit einer Woche wieder hier war. Noch nicht einmal seine Eltern oder sein Bruder wussten davon. Nur Gerry, der Besitzer vom Krass, bei dem er jeden Abend aufgelaufen war. So wie auch heute.
Julie war seine längste Beziehung gewesen. Oder besser, die einzige richtige Beziehung überhaupt. Er war einfach nicht der Typ, der sich eng an jemanden binden mochte. Das erinnerte ihn zu sehr an das langweilige Leben seiner Eltern – und täglich grüßt das Murmeltier. Als Julie damals anfing, mit ihm einen auf häuslich machen zu wollen, konnte er nicht anders. Er musste einfach weg. Na ja, und dann war da auch noch dieses krumme Ding gewesen, durch das er sich ganz schön in die Klemme gebracht hatte. Mist! Hier war noch nicht mal Papier zum Händetrocknen. Wirklich alles wie früher. Er schüttelte das Wasser von seinen Händen und seine Gedanken über die Vergangenheit gleich mit ab – damals hatte er sich wirklich nicht mit Ruhm bekleckert und er schämte sich noch immer dafür. Er atmete einmal tief durch, zuckte mit den Schultern und dann ging er wieder zurück ins Lokal.
An seinem Platz am Tresen stand eine schlanke Gestalt. Auffallend war jedoch weniger die gute Figur, sondern vielmehr die langen roten Haare, die ihr sanft gelockt über die Schultern flossen. Lecker. Bene konnte sich nicht erinnern, jemals eine Rothaarige gehabt zu haben, aber er glaubte mal gelesen zu haben, dass die ziemlich leidenschaftlich sein sollen. Na, das wär doch ein prickelnder Einstand für seine Rückkehr in die Heimat. Er setzte sein oft erprobtes Charming-Lächeln auf und ging die wenigen Schritte zu seinem Bier.
Gedicht
Der Schmerz um Liebe, wie die Liebe, bleibt
Unteilbar und unendlich. Fühl’ ich doch,
Welch ungeheures Unglück den betrifft,
Der seines Tags gewohntes Gut vermisst.
(Johann Wolfgang von Goethe)
Kapitel 2: Montag, 02. Mai 2011
07.30 Uhr
Ein paar Minuten noch, dann würde sie ihren neuen Arbeitsplatz erreichen. Katharina hatte sich mit sehr gemischten Gefühlen auf den Weg gemacht, denn für den ersten Arbeitstag hatte sie sich selbst die ungünstigsten Voraussetzungen geschaffen. Als sie am Vorabend die Wohnung verlassen hatte, war sie mit der Absicht gegangen, irgendwo mit sich selbst auf ihren Neustart anzustoßen, dann in ihrer neuen Wohnung noch für etwas Ordnung zu sorgen, um schließlich halbwegs vernünftig schlafen zu gehen und ausgeruht zu ihrem ersten Dienst zu erscheinen. Toller Neustart, wenn schon die Vorsätze des ersten Tages komplett danebengingen. Es war nicht die beste Idee gewesen, in die schummrige Kneipe zu gehen und sich ausgerechnet an den einzigen Platz am Tresen zu stellen, an dem ein Glas stand. Zumindest nicht aus der Retrospektive. Mannomann, sie hätte es gleich ahnen müssen, als der Typ ihr sein breites Grinsen schenkte, sich selbst ein weiteres Bier bestellte und ihr ungefragt einen Martini.
Bene – so hatte der Enddreißiger sich ohne große Umschweife vorgestellt – war irgendwie nicht das, was Katharina in dieser Umgebung als Kneipengast erwartet hatte. Ganz im Gegenteil. Sein durchtrainierter Körper steckte in einem gepflegten Outfit, geschmackvoll und trotzdem lässig. Ganz offensichtlich ein Typ, der eine Menge Wert auf sein Äußeres legte. Für Katharinas Geschmack war er fast schon etwas zu sehr gestylt, und eigentlich stand sie auch gar nicht darauf, am Tresen angebaggert zu werden, als wäre sie Freiwild. Aber gestern Abend hatte sie sich genau so gefühlt – wie Freiwild. Ohne die geringste Ahnung, was die Zukunft wirklich für sie bereithielt, in einer fremden Stadt, mit einem neuen Job und voller Zweifel und Ängste. Gerade diese Ängste waren es, die sie verfolgten. Sie hatte gedacht, sie in München zurücklassen zu können. Dort in der Wohnung, wo es damals passiert war und die sie nahezu voll möbliert ihrem Nachmieter übergeben hatte. Der junge Mann hatte sich über die Möbel gefreut, die sie ihm für einen geringen Abstand gelassen hatte. Das Geld hatte sie einer sozialen Einrichtung gespendet. Es war der Versuch gewesen, sich freizukaufen. Doch hatte es etwas genützt? Sie fühlte es noch nicht, obwohl so viele Kilometer zwischen München samt ihren Schuldgefühlen und Lüneburg lagen. Da hatte es verdammt gut getan, sich für den Moment von einem attraktiven Mann ein bisschen aufbauen zu lassen, der in ihr nichts weiter sah als eine Frau, die allein an einer Bar stand. Dem Einstiegs-Martini waren weitere gefolgt, ihrem Kopf nach zu urteilen, mussten es etliche gewesen sein. Den ersten halbwegs klaren Moment hatte sie erst wieder gehabt, als sie morgens um drei in einem fremden Bett aufgewacht war – nackt. So manche Erinnerungen hatten sich inzwischen wieder eingestellt, und es waren zugegebenermaßen nicht die unangenehmsten, aber trotzdem war sie erschrocken über sich selbst. So hatte sie ihr neues Leben eigentlich nicht starten wollen. Nach dem ersten Schreck hatte sie ihre Sachen zusammengesucht, sich leise angezogen und aus dem Staub gemacht. Der blonde Hüne, von dem sie nicht mehr als den Vornamen kannte – wenn es überhaupt sein richtiger Name war –, war glücklicherweise nicht aufgewacht. Als sie auf der Straße gestanden hatte, war ihr schlagartig klar geworden, dass sie nicht im Geringsten wusste, wo sie war oder wie sie zu ihrer Wohnung kommen sollte. Also hatte sie sich ein Taxi geschnappt und den Fahrer ungewollt verärgert, weil die Strecke zu ihrer Wohnung letztlich kaum mehr als eineinhalb Kilometer lang war. An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen, und so hatte sie die Zeit bis zum Morgen genutzt, um wie geplant ihr neues Zuhause noch ein bisschen auf Vordermann zu bringen. Dann hatte sie versucht, mit einer kalten Dusche die unübersehbaren Spuren der vergangenen Nacht aus den müden Augen zu verbannen und mithilfe einiger weiblicher Tricks ein halbwegs munteres Gesicht in den Spiegel zu zaubern.
Als Katharina nun an die Tür des Dienststellenleiters Stephan Mausner klopfte, riss sie sich mächtig zusammen. Sie wollte einen guten ersten Eindruck machen. In dem Moment, in dem sie das Büro betrat, erstarrte sie jedoch: Neben Stephan Mausner, der ihr freundlich die Hand entgegenstreckte, stand noch jemand – der Mann, dessen Bett sie erst vor wenigen Stunden fluchtartig verlassen hatte. Verdammt. So was konnte auch nur ihr passieren.
08.01 Uhr
»Guten Morgen, liebe Frau von Hagemann, und herzlich willkommen bei der Kripo Lüneburg!«, begrüßte Stephan Mausner die neue Mitarbeiterin seiner Dienststelle. »Das trifft sich ja hervorragend. Tolles Timing, tolles Timing, dass ich Sie beide hier gleich zusammenhabe. Darf ich also vorstellen: Das ist Kriminalhauptkommissar Rehder, Benjamin Rehder. Mein bester Mann hier. Er wird Sie in der ersten Zeit