Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring
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Als die Schwestern aus dem Bad kommen, steht die Mama mit dem langen Kerl – »Bo«, komischer Name – am Fenster, und er hat den Arm um sie gelegt, als ob sie ihm schon gehören würde. Ihr scheint das auch noch zu gefallen, denn sie drückt sich an ihn und guckt zu ihm hoch, dass man meinen könnte, er wäre weiß Gott wer, jemand richtig Tolles wie Jordan von den New Kids on the Block oder so. Seit dem Treffen mit ihm zu Ostern ist sie überhaupt noch gefühlsnudeliger als sonst, bei der kleinsten Kleinigkeit kommen ihr die Tränen, sie hört mitten im Kochen mit Gemüseschneiden auf und schaut träumend zum Fenster hinaus, das Messer halb erhoben, oder sie tanzt laut juchzend mit der Kompostschüssel durch den Garten. Echt peinlich. Als er bei Tisch anfängt zu fragen, in welche Klasse sie gehen und was sie für Interessen haben und so, ist Ronja froh, dass Leni wie immer sofort losplappert und damit angibt, dass sie in der Klasse die Schnellste im Fünfzig-Meter-Lauf ist und dass sie seit zwei Jahren Reitunterricht hat und immer auf Lillyfee reitet, die ist total brav, mit dem Fahrrad braucht sie nur zehn Minuten zum Reiterverein, plapperdiplapper, sie ist gar nicht zu bremsen. Nein, sie hat mit dem Reiten aufgehört, antwortet Ronja, als Bo sie fragt. Sie macht jetzt Jazzdance, das gefällt ihr besser. Tanzen ist für sie das Größte. Sie zögert, aber er sieht sie abwartend an, und so erzählt sie weiter, dass sie eine Zeit lang auch Gitarrenunterricht gehabt hat, wie Leni, aber den hat sie aufgegeben, weil Gitarre und Jazzdance, das wären ihr zu viele Termine geworden, und sie hat auch gern Zeit für sich, um zu lesen, Musik zu hören … und so. Was er so mache? Sei er wirklich Sänger? Dass die Mama ganz früher mal mit ihm zusammen in einer Band gesungen hat, haben sie erzählt bekommen, und Ronja hat sich vorgestellt, er wäre vielleicht einer wie Jordan, älter natürlich und nicht so bekannt, halt jemand, der von seinen alten Hits und seinen Auftritten erzählt und so smarte Bewegungen hat wie Jordan, so eine coole Frisur. Und dann kreuzt da ein Typ auf, der eher wie ein Skinhead aussieht und dem sie höchstens Oi!-Punk zugetraut hätte oder sonst eine Grölmusik aus der Mottenkiste.
Aber er macht gar keine Musik mehr, erfährt sie. Er war nur kurze Zeit im Leben Sänger und arbeitet seit vielen Jahren im Wald und im Obstbau. Im Wald? Ronja horcht auf. Dass er auf fünfzig Meter hohe Bäume klettert und von dort oben Samen herunterholt, imponiert ihr. Sie klettert selbst gern und ist auf Bäumen ziemlich geschickt, und im letzten gemeinsamen Österreichurlaub vor drei Jahren hätte sie furchtbar gern den Kinderkletterkurs mitgemacht, aber ihr Vater hat es nicht erlaubt, weil er meinte, sie wäre noch zu klein. Wenn sie richtig versteht, ist Bo ein einfacher Arbeiter ohne höheren Abschluss. Typisch, dass die Mama sich so einen aussucht, dabei sind sonst alle in ihrer Bekanntschaft Leute mit studierten Berufen – alle bis auf Joel, heißt das, der in einer Autowerkstatt gearbeitet hat, aber der war ja auch Afrikaner. Leni will wissen, ob Bo jetzt zu ihnen zieht, und guckt fast enttäuscht, als er meint, das müssten sie alle zusammen in den nächsten Monaten rausfinden und vor dem Herbst auf keinen Fall, bis dahin hat er noch andere Verpflichtungen. Im Herbst! Ronja zuckt unwillkürlich die Achseln. Das ist länger hin, als die Beziehung der Mama zu diesem Ekel Hans-Peter im ganzen gedauert hat, und mit Joel ist es auch nicht furchtbar lange gegangen, ein Dreivierteljahr vielleicht, höchstens. Wer weiß, ob die Sache im Herbst überhaupt noch aktuell ist.
Nach dem Essen bekam Bo das Haus gezeigt. Im Obergeschoss gab es eine kleine Zweizimmerwohnung, die an eine Studentin vermietet war, Anke, daneben die Zimmer der Mädchen und um die Ecke ein Gästezimmer, klein, zur Straße hin gelegen; das hätte er wahrscheinlich haben können. Er fragte nicht nach. Langsam wurde es Zeit, dass die Kinder zu Bett gingen. Er begab sich hinunter ins Wohnzimmer. Der Raum nahm das halbe Erdgeschoss ein. Hinter der dunkelbraunen Ledercouchgarnitur eine teuer aussehende Anlage mit großen Boxen. Kunst an den Wänden. Ein erkerartiger Anbau mit Schreibtisch und Bürokram. Er ließ den Blick über die Bücherregale schweifen: an Lesestoff kein Mangel. Viel Theaterzeug. Unmengen von Platten an einer Wand – und CDs; auf dem Stand der Tontechnik war Volker noch nicht und er sowieso nicht. Durch das breite Panoramafenster am Durchgang zur Küche blickte er auf den dämmernden Garten hinaus. Die sinkende Sonne tauchte die Bäume in ein warmes Licht. Sofie kam nach ihm schauen – alles in Ordnung, er brauchte nichts – und ging gleich wieder, weil für den Wochenanfang noch alles mögliche zu regeln war. Dass es mit Kindern viel zu organisieren gab, kannte er von Concha und ihren Söhnen, nur da hatte es ihn nie betroffen. Jetzt würde es ihn bald betreffen, wahrscheinlich, irgendwie. Er war dabei, einen Kopfsprung in unbekanntes Gewässer zu tun, von einem ziemlich hohen Felsen, und die Chancen, dass er sich den Hals brach, standen nicht schlecht. Uralte Erinnerungen und Träume, viel mehr war es nicht, was ihn mit der Frau verband, zu der, samt Anhang, er ziehen wollte. Und zwei Nächte. Zwei Nächte. In ihnen hatte er eine Facette dieser Frau ein wenig kennen gelernt – die Liebende, gewiss die schönste aller Facetten – aber wie mochten die anderen sein? Sofie als Mutter? als Frau im Beruf? Wie würde sich sein Alltag mit ihrem vereinbaren lassen? Wie konnte der überhaupt aussehen? Würde er sich separieren müssen? andere Strukturen schaffen? Würde er sich mit ihren Freunden verstehen? sie sich mit ihm? Viele Fragen, alle schon angeschnitten in ihren Gesprächen vor Ostern und dann in den Briefen, die sie sich fast täglich schrieben, und in den Telefonaten, die sie fast täglich führten. Sie hatten im letzten Monat über tausend Mark vertelefoniert, allein seine letzte Telefonrechnung hatte bei 485 Mark gelegen, und er zahlte sonst wenig mehr als die Grundgebühr. Er hätte es vorher nie für möglich gehalten, dass es zwischen zwei Menschen am Telefon so unendlich viel zu bereden geben konnte, Lebensgeschichten zum dritten und vierten Mal zu erzählen, angefangene Fäden fortzuspinnen, Missverständnisse auszuräumen, Zukünfte anzudenken. Zärtlichkeiten auszutauschen. Oder einfach zu schweigen und zu wissen, dass die Geliebte am andern Ende der Leitung war, sie atmen zu hören, und irgendwann dann dieses leise Gurren in ihrer Kehle, wie ein Anhauchen der Stimmbänder, und im nächsten Moment der Klang ihrer Stimme.
Abermals ging die Tür auf, sie grinste ihn an, huschte in die Küche, klapperte dort mit irgendwas, huschte zurück, grinste wieder. Er blickte ihr nach, und der Schwung ihrer Hüften übertrug sich auf ihn. Er tat ein paar tanzende Schritte durch den Raum, langsam, konzentriert. Er begehrte sie, sehr. Nach Jahren der Enthaltsamkeit, in denen ihm nichts gefehlt hatte, waren die Tag für Tag für Tag abgezählten letzten sechsunddreißig Tage ohne sie quälend zäh dahingekrochen. Ja, er hatte in der Liebesnacht, und am Liebestag, bittersüß erfahren müssen, dass er ihr als Mann nicht standhalten konnte, aber die Aussicht, die körperliche Liebe noch einmal neu zu lernen, mit ihr, hatte ihn im nachhinein mit einer kindlich-wilden Freude erfüllt. Er wollte sich in ihre Hand geben. Sich ihr überlassen. Er war stark genug, nicht stark sein zu müssen. Wenn sie ihn liebte, hatte er nichts zu fürchten, und wenn er etwas zu fürchten hatte, dann … erst recht nicht. Er nahm wieder das tanzende Schreiten auf, den Blick auf den Abendhimmel gerichtet, dessen glühende Farben seine Stimmung vertieften. Er war, schien es ihm, den Frauen in den letzten Jahren nicht direkt aus dem Weg gegangen, hatte sich durchaus das eine oder andere Mal gefragt, ob er nicht doch den Schritt tun sollte, aber die Schwelle war immer zu hoch gewesen. Die hohe Schwelle: das war es. Er hatte vor den Frauen kein Verbotsschild aufgestellt, keinen asketischen Kordon um sich gezogen, aber je schmaler und tiefer eingefurcht die innere Bahn wurde, die er sich im Leben verfolgen sah, stetig dahinrollend wie eine Kugel auf einer endlosen Murmelbahn, der sprichwörtliche rolling stone, umso zwingender standen die Frauen außerhalb, jenseits der Randschwelle. Um zu ihnen zu gelangen, hätte er ausscheren und über die Schwelle schießen müssen. Dazu aber war ihr Zug zu schwach.