Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring
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»Kleine Vereinigungen … «
»Sozusagen. Aus dem Lallen geht nie ein Text hervor, auch wenn es manchmal mehr gesprochen klingt als gesungen. Das Lallen …« Er zögerte. »Manchmal denke ich, das Lallen ist eine Art Tonspur, die dunkle Gefühlsspur, in der all das schwingt, was beim bewussten Formulieren unter den Tisch fällt. Eine Art Beschwörung. Als würde damit das Ganze beschworen, das in den ausgesprochenen Teilen ungesagt bleibt.« Er wandte sich ihr zu. »Wenn du sagst, dass du vom Ton ausgehst, heißt das, du gehst von diesem dunklen Ganzen aus? Du hörst in den Ton hinein, in sein inneres Schwingen, und dadurch erschließt sich dir auch der Text?«
»Puh.« Sofie dachte nach. »Vielleicht. Aber es ist etwas Inneres, wovon ich ausgehe, ein inneres Schwingen, wie du sagst, es hat nichts zu tun mit diesem Gewese, das heute von manchen um den Einzelton gemacht wird: dass er unbedingt von der Verstrickung in die musikalischen Konventionen befreit werden müsste, damit unter der Lüge des schönen harmonischen Scheins die nackte Wahrheit zum Vorschein kommt. Das reine musikalische Urelement.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. In ihren Augen, ihren Ohren!, kamen dabei meistens nur intellektuelle Spielereien heraus. Der einzelne Ton war vielleicht das Elementarteilchen, der Keim, aus dem die Musik entstand. Aber der Ton war nicht die Musik. Der Ursprung der Musik war kein fiktives Tonatom. Der Ursprung geschah, wenn der Ton sich hingab. Wenn er sich opferte. Einen anderen hervorbrachte. »Der Ursprung ist die Liebe, verstehst du? Die Musik beginnt mit dem zweiten Ton.«
Bo machte zustimmende Töne. Sie passierten das Ortsschild Mielkendorf. »Vor Jahren haben eine Freundin und ich ganz praktisch damit experimentiert«, spann Sofie ihren Faden fort. »Wir wollten in der Interaktion eine gemeinsame Form schaffen, etwas, das für uns beide unvorhersehbar war. Eine hat einen Ton gesungen, ich zum Beispiel, ihn gehalten und wiederholt, dann hat Jenny mit einem anderen Ton geantwortet, ich mit einem dritten und so weiter, bis wir eine Phrase hatten, eine melodische Grundstruktur, mit der wir dann weitergearbeitet haben, Tempo und Rhythmus modifiziert, andere Phrasen entwickelt. Am spannendsten ist immer der zweite Ton. Wenn du den ersten Ton singst, hörst du hinein, du hörst Ober- und Untertöne, spürst eine Potenz, willst ihr eine Richtung geben. Manchmal ist es, als käme überhaupt nur eine Richtung in Frage, der zweite Ton singt sich in deinem Kopf wie von selbst, und manchmal fühlst du dunkel eine Fülle von Möglichkeiten, unter denen du dich entscheiden musst. Es kann passieren, dass die andere einen Ton singt, der deiner Stimmung widerspricht, und das kannst du dann mit dem dritten Ton auffangen, oder es klappt nicht und man kommt nicht zusammen. Der dritte Ton entscheidet darüber, ob es eine harmonische Melodie wird oder ob etwas Schräges und Dissonantes entsteht. Beides kann stimmen, und beides kann konventionell sein, das harmonische Muster ebenso wie das Muster, das Muster zu brechen. Die Frage ist, ob die zwei, die singen, mehr wollen als konventionelle Muster, konventionelle Virtuosität, ob sie die Offenheit haben, sich aufeinander einzulassen, so dass etwas Neues entsteht, etwas, das mehr ist als die Summe der beiden Seiten.«
Bei den letzten Sätzen fuhr Sofie schon den Eiderweg hinunter. Sie bog in die Einfahrt ein. Bo setzte an auszusteigen, aber sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Sag, was hast du vorhin mit den kleinen Vereinigungen gemeint?«
Bo nahm die Hand von Türgriff. Verlegen winkte er ab. »Nicht der Rede wert«, sagte er. »Im vorigen Jahr sind mir kurz hintereinander zwei ganz kleine, na ja, Gedichte gekommen, wo ich im inneren Rezitieren gleich eine Melodie im Ohr hatte. Ich musste dabei an meine Oma denken, der hätte ich vor ihrem Tod gern noch ein deutsches Lied geschrieben. Tja.« Er zuckte die Achseln.
»Singst du mir die Lieder vor?«
Bo blickte sie an. Hier im Auto? Er schluckte die Frage hinunter. »Ja«, sagte er. Leise und unsicher einsetzend, in der Wiederholung der ersten beiden Verse sicherer werdend, trug er ihr den Vierzeiler vor, den er das »Steinlied« nannte:
Wir zwei sind Brüder, der Stein und ich,
wir leben gesammelt und still,
bis uns eine Blume als Erde annimmt
und sich frei in uns gründen will.
»Schön«, sagte sie und griff nach seiner Hand, drückte sie.
»Na ja, es ist wenig dran.«
»Genug.« Ein kurzer Blick aus feuchten Augen traf ihn. »Und das andere?«
»An dem ist noch weniger dran.« Er löste seine Hand. »Es heißt ›Du‹.« Er räusperte sich, aber seine Stimme blieb heiser und brüchig, als er es sang.
Sofie schwieg lange, summte ein wenig die Melodie. Sie machte die Tür auf, stieg aus. Bo tat es ihr nach. »Kann ich das haben?«, fragte sie über das Autodach hinweg.
Er klappte die Beifahrertür zu, runzelte die Stirn. »Haben? Wofür?«
»Für meinen Frauenkreis.«
… e la libertà …
»Komm, Sofie, erzähl!«
Ja, ja gern, nur zu gern … aber wie? Wie erzählte sie etwas, das sie so viele Jahre lang nicht nur vor den Freundinnen gehütet hatte, sondern auch vor sich selbst? so gut gehütet, dass sie wohl wusste von der verbotenen Tür und dunkel ahnte, was sich dahinter verbarg, aber nie wirklich Klarheit schaffen ging, nie auch nur vergewissernd durchs Schlüsselloch lugte, schon gar nicht aufzuschließen versuchte, höchstens einmal traumverloren mit dem Schlüssel spielte, um ihn schnell wieder wegzustecken. Ach, nicht so wichtig. Falls sie Bo früher überhaupt erwähnt hatte, dann höchstens als einen, mit dem sie vor Urzeiten mal zusammen in einer Band gewesen war, aber beim letzten Treffen zum Frühlingsanfang konnte sie dann doch nicht damit hinterm Berg halten, dass dieser alte Freund sie überraschend zu einer Ausstellung in Heidelberg eingeladen hatte, und obwohl sie die Sache herunterspielte, waren alle im Kreis hellhörig geworden. Inzwischen wussten die meisten von der neuen Entwicklung in Sofies Leben, und ohnehin sahen alle ihr die Veränderung an, so beschwingt, wie sie am Nachmittag angekommen, so verpeilt, wie sie beim gemeinsamen Kochen, und so überdreht, wie sie beim Essen gewesen war, so jubelnd, wie sie gesungen hatte. »Du musst diesmal den Anfang machen!«, waren sich alle einig.
Also gut. Das Geschirr war abgeräumt und gespült, und vom Einstimmungskanon angeheizt saßen sie zu elft im Stuhlkreis um das kleine Lagerfeuer, das Carola und Jenny auf der Wiese zwischen den Gästehäusern in Gang gebracht hatten und das sie gut gebrauchen konnten, denn obwohl der Regen der letzten Tage zum Glück aufgehört hatte, waren die Temperaturen für Mittsommer doch noch ziemlich frisch. Sofie seufzte. Über nichts hätte sie lieber gesprochen, aber wie, wie sollte sie von diesem Mann erzählen, der plötzlich wieder in ihr Leben getreten und doch nie wirklich daraus verschwunden war? »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Im Grunde war er immer da.«
»Immer da? Hm. Wie das?«
Am Sonntag erst hatte sie Bo das selbe erzählt. Ronja und Leni waren am Abend aus Berlin zurückgekehrt, und als sie zu viert am Essenstisch saßen