Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring
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»Ja«, sagte Bo, »kommt mir bekannt vor. Man geht in ein Bild rein, mit dem man sich identifiziert und das irgendwo auch was Wahres hat, und hält das für sich selbst. Wenn man diese Identität dann auch noch von anderen bestätigt bekommt, ist es mühsam, da wieder rauszukommen.« Er nickte: ja, ein zweites Stück Mohnkuchen nahm er gern.
»Ich wollte aber keine sicheren Bilder«, fuhr Sofie fort. »Diese angeblichen Urzustände waren mir zu eng. Und zu schwach. Ich finde, nach so und so viel Jahrtausenden Männergeschichte ist die Frau wirklich das große Unbekannte, Freuds dunkler Kontinent, auch für sich selbst. Einerseits ist es natürlich eine Schwäche, dass wir uns selbst nicht kennen, oder nur in den geduldeten Formen, aber andererseits ist es unsere große Stärke. Um die bringen wir uns, wenn wir so tun, als gäbe es eine hiebund stichfest bewiesene Vergangenheit, ein leuchtendes Vorbild für die Zukunft, das wir nur reproduzieren müssten. Ich will auf einem freien Weg ins Unbekannte gehen, in eine offene Zukunft, die aus einer offenen Vergangenheit kommt. Mit falschen Sicherheiten nehmen wir uns bloß die Kraft, diesen Weg mit eigenen Füßen zu gehen. Verstehst du das?«
Bo legte die Gabel ab. »Und ob ich das verstehe«, sagte er. Sein Blick war erstaunt. »Es ist ein bisschen, als ob du mir meine eigenen Gedanken erzählst. Das mit dem Willen zur Unsicherheit kenne ich sonst eigentlich nur von mir.« Was ihn betraf, so war er auf seiner Athosfahrt vor Jahren zu dem Schluss gekommen, dass er die überlieferte Weisheit, die geistige Führung, die Glaubensgewissheit, die kultischen Handlungen, die brüderliche Gemeinschaft, die ganzen über viele Jahrhunderte bewährten festen Formen des Mönchslebens zwar achten, ja bewundern, aber nicht übernehmen konnte, selbst wenn er es wollte. Es ging nicht. Er konnte sich kein Kostüm anziehen, und wenn es ihm noch so gut gefiel. Dieses nicht und auch kein anderes. Er musste die Formlosigkeit aushalten, und wenn er jemals zu einer Form fand, die für ihn stimmte, dann allein aus gelebtem, sei es formlos gelebtem Leben. »Im Moment gibt es für mich nur eine einzige Sicherheit: dass ich ungesichert mit dir zusammengehen will.«
Sofie stand auf, setzte sich vor ihm auf dem Boden, legte ihm den Kopf auf den Schoß. Eine Weile blieb sie so, streichelte seinen Schenkel. Dann blickte sie zu ihm auf. »Mein Frauenkreis ist aus dem Impuls heraus entstanden, mich mit anderen Frauen so zu verbinden, wie wir wirklich sind, nicht wie wir gerne wären. Welche Kräfte finden wir wirklich in uns, so wie wir sind, welche Formen können daraus entstehen? Formen, die wir mit dem Herzen tragen können, die uns nicht im stillen peinlich sind. Die den Alltag durchdringen und bereichern und nicht nur ein kurzzeitiger Ausbruch aus dem Alltag sind, in den wir hinterher wieder abstürzen, wenn uns die Hochgefühle nicht mehr tragen. Der Weg dazu, mein Weg, schien mir das Singen zu sein, das Singen in einer Gruppe von Frauen, die ihr Leben in die Hand nehmen wollen. Wenn wir auf die Stimmen lauschen, so wie sie wirklich sind, dachte ich, ist es, als ob wir gemeinsam einen Weg gehen. Einen Weg bauen. Einen Weg ins Dunkel.« Sie legte den Kopf auf seinen Schoß zurück.
»Ein Weg ins Dunkel«, wiederholte Bo. Er strich ihr durchs Haar.
»Ein Weg ins Dunkel unseres wirklichen Lebens«, murmelte sie ihm in die offene Hand. »Vielleicht wird es ja mit der Zeit von selbst hell, von innen heraus. Ohne künstliche Beleuchtung.«
»Okay, Luzie, vieles ist nah dran an dem, was mir auch am Herzen liegt«, sagt Sofie, »aber knapp daneben ist auch vorbei.«
Beim Aufbruch haben sie es offengelassen, ob sie weiter mitmachen und zum Sommerfest wiederkommen wollen, doch kaum ist der Frauenhof hinter der ersten Kurve verschwunden, wächst auch der innere Abstand. Luzie hat die Zeremonien und Weltfriedensgesänge nicht in dem Maße als peinlich empfunden wie Sofie. Göttin als Wort für die Lebenskraft, die kosmische Energie oder so, ist für sie ganz in Ordnung, sie muss sich dabei keine alte Frau mit weißem Dutt im Himmel vorstellen. Sie hat es mehr gestört, dass die lesbischen Frauen in der Gruppe so getan haben, als würden sie mit ihrer Liebesentscheidung als einzige das richtige Leben im falschen führen. Sie könne sich ja mal umschauen, meint sie, ob es ähnliche Projekte gibt, die vielleicht ein bisschen »biologistischer« sind, wo man nicht schief angeschaut wird, wenn man sagt … wenn frau sagt … dass sie lieber mit Männern ins Bett geht.
Sofie erwidert das Grinsen der Freundin. Bei Luzies Pagenkopf und ihrer burschikosen Art ist es verzeihlich, wenn die Lesben sich in ihr geirrt haben. Sie überlegt kurz, schüttelt den Kopf. »Nein, Luzie, lass uns was Eigenes machen. Eines hat das Wochenende ganz sicher für mich gebracht: ich weiß jetzt genau, wie wichtig mir das Thema ist, ich kann da keine Kompromisse machen und mich mit Halbheiten abfinden, die für mich nicht stimmen«, und als sie in Hannover am Bahnhof vorfahren, wo Sofie den Zug nach Hamburg nehmen will, sind die wesentlichen Entscheidungen gefallen. »Keine kommerzielle Veranstaltung, kein therapeutischer Ansatz, kein ideologischer Überbau«, fasst Luzie am Bahnsteig kurz und knackig die Ergebnisse ihres einstündigen Brainstormings im Auto zusammen. »Keine Trennung vom Alltag«, fügt Sofie hinzu. Der Zug fährt ein, sie umarmen sich.
So machen sie es. Im Lauf der nächsten Monate führen sie lange Gespräche mit Freundinnen, und alle sind angetan von der Idee, sich regelmäßig viermal im Jahr mit anderen Frauen, teils schon bekannt, teils noch kennen zu lernen, für ein langes Wochenende zu treffen, ohne professionellen Anstrich und ohne den Anspruch, hinterher irgendwelche vorzeigbaren Produkte oder Programme abzuliefern. Sie wollen zusammen singen, aber nicht als Chor öffentlich auftreten, sie wollen zusammen nachdenken, aber keine Thesen in die Welt setzen, sie wollen sich öffnen und füreinander da sein, aber niemanden therapieren, sie wollen feiern, ohne die Augen vor dem Alltag zu verschließen, und Kräfte freisetzen, die in diesen Alltag hineinwirken, ihn im kleinen verändern, in den Familien, in den Arbeitszusammenhängen, in den Freundeskreisen. Der Gedanke des Jahreskreisfestes gefällt allen, der Aufmerksamkeit auf den Rhythmus des Jahres und des Kontakts zu einer natürlichen Lebensordnung, die sie sich aber nicht unbedingt im Bild einer Göttin vorstellen müssen. Zum Herbstanfang findet das erste Treffen in einem Anglerheim bei Lauenburg statt.
Kraftquelle, Orientierungshilfe, Gemeinschaftserlebnis, Inspiration, Hocherfahrung – von Mal zu Mal gewinnt das Fest im Leben der Frauen, die anfangs zu neunt sind und über die Jahre nie mehr als zwölf werden, neue Facetten, größere Bedeutung. »Ihr seid mein Dorf!«, erklärt Lydia, die ukrainischer Abstammung ist und traditionelle mehrstimmige Gesänge in die Gruppe einbringt. Aus den vielstrophigen ukrainischen Liedern werden im Aneignungsprozess wenige lautmalerische »Sätze« in einer Phantasiesprache, zu der Sofie die anderen ermutigt. Sie verwendet zwischen den Treffen viel Zeit und Energie darauf, singbare Weisen zu komponieren, mit denen sich spielen lässt, zapft ihren unerschöpflichen Vorrat an afrikanischen Liedern an und bearbeitet diese für die Zwecke der Gruppe. Wenn sich ihr irgendwoher ein Text zuspricht, nimmt sie ihn und arbeitet damit, Verse aus Gedichten von Karin Kiwus, die sie gern liest, oder von Else Lasker-Schüler.