Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring
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»Und jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel.« Nach der Aufnahmeprüfung war ihr plötzlich dann doch, als drängte sie »ihr töricht Herz«, ihm, dem »Lieben, Wilden, Süßen, Schrecklichen«, so schnell wie möglich mitzuteilen, dass sie bestanden hatte. Als wüsste er von ihrem Kampf und wartete begierig auf den Ausgang.
»Ich hatte das Gefühl, es dir unbedingt erzählen zu müssen, aber zu der Zeit hat ja nicht einmal Egon gewusst, wo du abgeblieben warst.« Bo brummte bestätigend. Er oder sie, eines von beiden hatte in den Jahren immer dafür gesorgt, dass sie sich verfehlten.
Also vergaß sie ihn – bis zu ihrem unerwarteten Wiedersehen zwei Jahre später – und dann war er ihr natürlich wieder präsent, als sie in der Spielzeit 1979/80 als Gregor Hentschlers Penthesilea auf der Bühne des Hamburger Thalia Theaters stand. Mit umwerfendem Erfolg. Sie war an einem anderen Punkt im Leben als zu Beginn ihrer Ausbildung, fühlte etwas wie schauderndes Mitleid mit dem kranken Dichterhirn, das sich diese Perversion liebender Schutzlosigkeit hatte ausdenken müssen, diese aneinander vorbeirauschenden Scheindialoge zwischen zwei Scheinliebenden, eingesponnen in Wahn die eine, in Konvention der andere, beide gleich unfähig, sich wahrzunehmen. Wie sehr sich ein Mann doch verkunsten konnte, wenn er im Leben keinen Fuß auf den Boden bekam. Gerade dieser tiefe Widerwille gegen den Geist des Stücks jedoch schien es ihr zu ermöglichen, sich ganz und gar in die Besessenheit von der romantischen Liebe hineinzusteigern und die Verkörperung ihres äußersten Zerrbilds als innere Reinigung zu vollziehen, Exorzismus durch Exzess gewissermaßen. Noch krasser als Tristan demonstrierte Penthesilea, wenn sie Achills Leiche mit den Zähnen zerfleischte, die Quintessenz der romantischen Verblendung: Tod. Die extreme Spannung zwischen Identifikation und Distanz, der innere Krieg, den sie mit sich führte, verlieh ihrem Spiel eine unmittelbare Wirkung, die alle Kritiker begeisterte. Von einer »titanischen schauspielerischen Leistung« war in der ZEIT die Rede.
Kurz vor Weihnachten starb Fred, und sofort standen die Gespenster der Vergangenheit mit auf der Bühne. Sie fuhr mit dem Vorsatz nach Mainz, den Gespenstern endlich ins Auge zu sehen, doch das eine Gespenst, auf das sie am meisten hoffte, kam nicht aus der Versenkung. »Ich habe mir von Egon deine Nummer geben lassen und ein paarmal bei dir angerufen, aber du warst nie da.« Wieder brummte Bo. »Doch, ich war da«, sagte er, »aber ich bin nicht drangegangen. Ich dachte, es ist meine Mutter.« Er schüttelte den Kopf. »Da war ich vermutlich schon nicht mehr zu erreichen. Von niemand.«
Sie schwiegen lange. Neumünster-Süd strich vorbei. Großenaspe. Sofies Stimme klang verändert, als sie sagte: »Als ich wieder in Hamburg war, ist in der selben Nacht – da gab es für mich gar keinen Zweifel – Leni gezeugt worden. Es war, als ob das Glück, das dieser Augenblick hatte …«, sie stockte, »als würde darin ein großer Schmerz einfließen.« Wieder schwieg sie. »Du bist für mich mit meinen beiden Töchtern verbunden. Von Anfang an.«
Bo schnaufte und sagte nichts.
Mit der neuen Schwangerschaft war klar, dass es für sie bis auf weiteres keine zweite Spielzeit geben würde. Und die erste brachte sie innerlich gespalten zu Ende. Sie hatte in einem künstlichen Raum etwas mit aller Konsequenz ausagiert und dadurch im Leben eine tiefere Klarheit gewonnen: Wollte sie einen Lebensweg gehen oder eine Titanin der Bühne werden? Ließ sich das verbinden? Schloss es sich aus? Musste sie jetzt noch die Medea spielen? War das Schauspielen ein Weg, ihr Weg, zur eigenen Wahrheit, oder war es der Weg daran vorbei? Sie wusste es nicht.
Nach Lenis Geburt schien sich die Geschichte zu wiederholen. Sie war unendlich fasziniert von der Kleinen und ihrer älteren Schwester, diesen Wesen, die auf ihren Ruf hin gekommen waren, sie wusste nicht, woher und warum, aber jetzt waren sie da, ihr anvertraut, in ihre Hand gegeben, und sie wollte dieses Vertrauen rechtfertigen und ihnen, ja, eine gute Mutter sein, auch wenn sie darunter nicht die dumpfe Gluckenexistenz verstand, die sie bei manchen Frauen sah und die ihre eigene Mutter ihr mit stillem Grausen unterstellte, weshalb sie sehr selten aus Frankfurt zu Besuch kam und, wenn, keine Hilfe war. Gerade in dieser ersten Zeit, wo die kleine Seele noch nicht auf der Erde Fuß gefasst hatte und Sofie in den dunklen Augen des Kindes die Nacht erblickte, aus der es kam, gab es für sie nichts Schöneres und Erregenderes, als sich zwischen den immergleichen täglichen Verrichtungen – stillen, wickeln, anziehen, ausziehen, herumtragen, beruhigen, einschläfern, schäkern – ahnend, tastend diesem anderen Schicksal zu nähern, das dabei war, sich immer stärker mit ihrem eigenen zu verflechten. Wer bist du? Wer bin ich? Warum bist du zu mir gekommen? Gregor verlor irgendwann die Geduld. Die Aufmerksamkeit, die sie ihm im Bett entzog, war das eine, aber was ihn noch stärker angriff, war ihre Weigerung, möglichst rasch an die Bühne zurückzukehren. Sie müsse die Kraft ihrer jungen Jahre nutzen, dürfe ihr großes Talent nicht vergeuden. Sah er denn ihre andere Kraft überhaupt nicht? Ihre Kraft des Lebens.
Ja! Genau! Ganz genau! Die Verbindung von Kunst und Leben, das ist es doch, woran sie schon vor Jahren gemeinsam geknackt haben, versichern sie sich gegenseitig lachend und händedrückend und schulterrubbelnd und sich an der roten Ampel schräg umarmend, als wirklich alles alles erledigt ist, gepackt und geplant und mit Gregor und der Kinderfrau abgesprochen, die Milch abgepumpt und die beiden Kleinen noch einmal geherzt und der Mann dankbar geknuddelt, und sie endlich im Auto sitzen und die Fahrt endlich losgeht, endlich endlich. Kein alltagsferner Hochleistungszirkus einiger Auserwählter für die Masse der passiven Konsumenten, sondern Kunst als aktive Lebensgestaltung, Menschen verbindend, Gemeinschaft stiftend. Magie? Ja, von ihr aus auch Magie! »Ach, Luzie!«, ruft Sofie und umhalst die Freundin noch einmal an der letzten Ampel vor der Autobahn. »Diesmal machen wir ernst, ganz bestimmt!« Sie dreht das Fenster herunter, als sie anfahren, und lässt ihren roten Seidenschal im Wind flattern. »Mit fliegenden Fahnen!«, jubelt sie, und Luzie antwortet mit dem lauten Trillern, das sie sich von den Frauen in Afrika abgehört hat, reckt die Faust. »Bandiera rossa!«, ruft sie, und gemeinsam singen sie mit überschnappenden Stimmen:
Bandiera rossa la trionferà.
Bandiera rossa la trionferà.
Bandiera rossa la trionferà.
Evviva il comunismo e la libertà!
Das war vor zehn Jahren ihr Lieblingslied auf den Häuserkampfdemos, an denen die frisch politisierten Schülerinnen mit fünfzehn, sechzehn hocherregt teilnahmen. Sie gingen zwar in eine Klasse, aber richtig zu Freundinnen wurden sie erst, als sie mit den deutschen und italienischen Hausbesetzern und ihren Unterstützern untergehakt durch die Straßen des Frankfurter Westends liefen, revolutionäre Parolen schrien und Arbeiterlieder sangen. Später mischten sie eine Zeit lang im Frauenzentrum mit, Luzie länger, Sofie kürzer, fuhren nach dem Auseinanderbrechen von Sofies Band zusammen in den Senegal, ein Jahr später an die Elfenbeinküste, und als sie 1977 in der Walpurgisnacht weißgeschminkt durch Hamburg zogen und sich als die neuen Hexen fühlten, die sich von den Männern nicht mehr das Recht nehmen ließen, sich nachts auf den Straßen frei zu bewegen, da sahen sie sich einmal kurz an und hatten beide sofort ihr altes »Avanti popolo« auf den Lippen, und das libertà! im Refrain sangen sie mit besonderer Inbrunst. Hinterher fuhren sie mit drei anderen Frauen an den Mönchteich im Osten der Stadt und waren sich einig, dass sie von nun an verstärkt verschütteten weiblichen Traditionen nachgehen und Ausdrucksformen weiblicher Lebenskraft aus anderen Zeiten und Kulturen auf ihre Weise wiedergewinnen wollten. Luzie war da gerade nach Bremen gezogen, und sie stellten sich vor, sich häufig zu sehen, Sachen zusammen zu machen, gemeinsam etwas zu bewegen. Dann gingen die Lebenswege auseinander. Luzie wurde völlig vereinnahmt von der neuen Stadt und der neuen Stelle als Kostümbildassistentin, ihre erste feste Anstellung nach dem Studium in Offenbach, und Sofie war ein Jahr später schon Mutter und bald darauf ihrerseits davon vereinnahmt, sich als Schauspielerin einen Namen zu machen.