Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring

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Das Fest der Männer und der Frauen - Hans-Ulrich Möhring

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Es geht nicht um äußere Perfektion, alle Töne sind gefragt, von den rauesten zu den reinsten. Die gesungenen Laute werden breiter, erdiger, mundartlicher, verlieren ihre hochdeutsche Blässe. Mit der Erfahrung wird der Umgang freier, die Hemmschwellen sinken. Trotzdem spürt Sofie, dass sie noch etwas anderes will. Was? Die Elemente sind alle da: sich austauschen, zusammenfinden, gemeinsam kochen und essen, singen und tanzen; eine Gemeinschaft werden. Wäre eine größere Unmittelbarkeit denkbar, mehr Spontanität, mehr Intensität? Mehr … Theater?

      Unterdessen versucht Gregor, sie zur Rückkehr auf die Bühne zu bewegen. Dass Sofie in ihrer Frauengruppe auflebt und Kraft daraus zieht, ist ja ganz prima, aber die Kraft muss in die richtigen Kanäle fließen. Wenn sie eine neue Inspiration braucht, vielleicht noch mal nach Abidjan wie vor einigen Jahren und in die quirlige ivorische Theaterszene eintauchen, dann hätte er nichts dagegen, gemeinsam mit ihr und den Kindern in der Spielpause im Sommer an die Elfenbeinküste zu fahren, so ein Mix aus Kulturtrip und Badeurlaub würde wahrscheinlich allen gut tun. Dann kommen ihm dringende Verpflichtungen dazwischen und die Reise fällt ins Wasser. »Abidjan? Da war ich vor kurzem erst«, bemerkt Sofies Vater, der zwischen zwei Rundfunkterminen beim NDR auf einen Kurzbesuch vorbeikommt und, als die Tochter nachfragt, von seiner mehrwöchigen Reise durch Ghana und die Elfenbeinküste erzählt, wo er für den WDR eine Radiosendung über weibliche Gesangstraditionen bei verschiedenen westafrikanischen Völkern gemacht hat. Gesendet wird sie erst im August, aber er kann Sofie ja schon mal das Band schicken, wenn es sie interessiert. Ja, sehr! Gespannt lauscht sie den Erklärungen, die ihr Baaba über Nnwonkoro, Ayabomo, Dansuom und Adowa bei den Akan, Nzima und Ga gibt. Allgemein sind durchweg die Frauen für den öffentlichen Ausdruck der Gefühle zuständig und begleiten auch die meisten Riten und Übergangszeremonien mit ihren Liedern, das weiß Sofie ja selber. Ihr Stoff können Mythen, Träume, aktuelle Ereignisse, alles mögliche sein. Aber es gibt interessante neuere Entwicklungen; einige sieht er durchaus kritisch. Ayabomo zum Beispiel. Das ist zwar bei den Nzima ein alter Brauch, der es den Frauen ermöglicht, Missstände anzusprechen und eheliche Probleme öffentlich zu machen, ohne befürchten zu müssen, dafür von den Männern geschlagen zu werden, aber seit einiger Zeit nutzen die Frauen ihn verstärkt, um nicht nur gleiche Rechte und anständige Behandlung, sondern auch einen modernen Lebensstandard mit schicken Kleidern und materiellem Komfort einzuklagen, für den die Männer sich gefälligst krummlegen sollen. Trotzdem hat es ihn beeindruckt mitzuerleben, wie Frauen sich abends über den zentralen Dorfplatz hinweg zurufen und an einer Ecke zusammenkommen, wie sie einen Kreis bilden und zu rhythmischem Händeklatschen zu singen anfangen, wie andere Frauen dazutreten und wie sofort eine Atmosphäre der Fröhlichkeit und Herzlichkeit unter den Singenden entsteht. Die Schönheit dieser afrikanischen Frauen – ah, wunderbar. Struktur wie üblich: die Vorsängerin trägt in Liedform gestenreich ihr Anliegen vor, manchmal auch tanzend und regelrecht rollenspielend, und der Chor begleitet sie mit zustimmenden Rufen und wiederholt refrainartig immer die letzten Verse der Strophen. Auch die Umstehenden machen ermunternde Zurufe und nehmen überhaupt lebhaft Anteil, denn meistens werden in den Liedern ja Dinge verhandelt, die sie selber betreffen. In Nguiémé etwa warf die zweite Frau des Bürgermeisters ihrem Mann nicht nur die Zurücksetzung durch eine neue, jüngere Ehefrau, sondern auch üble politische Machenschaften und krumme Geschäfte vor. Faszinierend, wie die Frauen in ihrem geschlossenen Kreis zu einer einzigen kollektiven Stimme werden und in dem Freiraum, den sie sich gewissermaßen ersingen und erspielen, Äußerungen tun, die unter anderen Umständen undenkbar wären. Ach, da gäbe es noch viel zu erzählen, aber jetzt wollen die Enkeltöchterchen auch was von ihrem Opa haben, der immer so lustig ist und so tolle Spiele kennt.

      Ja, spielt nur, spielt. Sofie könnte noch lange zuhören, aber der Funke ist übergesprungen. Singen und Erzählen nicht als zwei getrennte Aktivitäten, sondern in eine Form zusammengezogen! Auf die Idee hätte sie selbst kommen können. Natürlich hat sie nicht vor, sich mit ihren Frauen an den Jungfernstieg zu stellen und Klagen über ihre Beziehung und die allgemeine männliche Gefühl- und Gedankenlosigkeit zu trällern. Männer und Frauen sind in ihrem Land an einem anderen Punkt miteinander als bei den Nzima von Nguiémé. Aber im geschützten Raum ihres Kreises könnten doch auch sie, könnte jede einzelne von ihnen die Freiheit und Sicherheit entwickeln, den anderen singend und spielend vorzutragen, was sie auf dem Herzen hat, und so viel Arbeit darin investieren, wie ihr die Sache wert ist. Jede könnte mit ihrem persönlichen Anliegen zur Vorsängerin werden, die anderen anleiten und mitnehmen, um dann wieder in den Kreis zurückzutreten und die nächste machen zu lassen. Sie könnten vorhandene Lieder umdichten oder neue spontan entstehen lassen und langsam ein Repertoire ansammeln, auf das sie zurückgreifen könnten – nicht um Vortragskunst für ein Publikum zu produzieren, sondern gewissermaßen zur vitalen musikalischen Selbstversorgung, um mit solchen Formen das eigene Leben und ihr entstehendes gemeinschaftliches Leben zu stärken. Es wäre ein Mittelding zwischen Komposition und Improvisation, was sie da schaffen würden: sie würden entweder wie bisher bekanntes Liedmaterial für ihre Zwecke benutzen, wenn auch mit neuer Zuspitzung, oder eigene musikalische und textliche Eingebungen gemeinsam bearbeiten, wenn sie sich vielversprechend anhörten. Beim Nachdenken kommt ihr der Verdacht, dass sie mit ihrer tollen Idee nur dem Geheimnis der echten Volksmusik auf die Spur gekommen ist: eine lebendige Gemeinschaft singt von den Sachen, die sie wirklich bewegen, sie hört sich keine vorgefertigten Lieder vom Band an, und sie zelebriert keine festgeschriebenen, jahrhundertelang unverändert gehaltenen Hochkulturkunstwerke, deren ursprünglicher freier und spielerischer Geist sich in der buchstäblichen Aufführung zwangsläufig in sein Gegenteil verkehrt, weil das freie Spiel allein Sache des Komponisten ist und nur bestaunt, aber um Gottes willen nicht mitvollzogen werden darf. Das eigene Singen und Musizieren dagegen befreit jede Einzelne, und zugleich stärkt es das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Einzelne wird in sich selbst geerdet wie auch in der Gemeinschaft, und so geerdet kann sie frei abheben und sich in die Höhe schwingen und hat im höchsten Hochschwung immer die Sicherheit, frei zurückkehren zu können und festen Boden unter den Füßen zu haben. Ein Satz, sie weiß nicht von wem, geistert ihr durch den Sinn, vor Jahren einmal gehört, sie weiß nicht mehr wann, in irgendeiner wichtigen Situation, sie weiß nicht mehr wo. »Fittiche gib uns, mit treuem Sinn hinüberzugehen und wiederzukehren!« Sie gibt ihm eine melodische Form, bringt ihn der Gruppe zum Sommerfest mit.

      Was Sofie mit Erdung meint, verstehen alle, aber manche fragen sich, ob sie so viel Kreativität aufbringen können und mögen, oder so viel Hingabe; eine verlässt die Gruppe. Dann hat Lydia eine Fehlgeburt, ihre zweite, und als sie zwei Wochen später zum Wintertreffen der Gruppe kommt, lässt sie sich mit ihrem ganzen Schmerz in die Hände der Freundinnen fallen, so dass diese gar nicht anders können, als die Weinende und Jammernde aufzufangen. Sie fängt an, ein ukrainisches Wiegenlied zu schluchzen, von dem sie sich vorgestellt hat, es ihrem Söhnchen vorzusingen, und erst stimmt eine leise ein, dann nach und nach die anderen, so gut sie den Text verstehen. Lydia übersetzt ihnen die einfachen Worte, singt deutsch weiter, und alle singen mit. Weinen mit. Die Zeile »Morgen wirst du wieder wach« verändert Lydia zu »Niemals wirst du wieder wach«, und gemeinsam dichten sie weiter, bis aus dem Wiegenlied eine Totenklage geworden ist. Tod und Trauer werden groß unter ihnen. Mona erzählt, wie ihre kleine Schwester mit fünf bei einem Unfall ums Leben kam und wie die Mutter keine Möglichkeit fand, ihr Leid mit jemandem zu teilen, es aus sich hinauszubringen, und wie sie über die Jahre innerlich davon aufgefressen wurde. Andere folgen mit eigenen Geschichten, mit unbewältigtem Schmerz. Dazwischen singen sie immer wieder unter Tränen Lydias Lied, wandeln es ab, dichten eine neue Strophe. Das ganze Wochenende singen sie nur dieses eine Lied, und am Ende ist es ihr gemeinsamer Klagegesang, der mit den Jahren zu Traueranlässen ertönt. Die Art, wie das Lied von der ganzen Gruppe geboren wird, wie mal die eine, mal die andere vorsingt und die anderen einfallen und weitermachen, wird zum Vorbild für andere Formen. Wenn eine erzählt, trauen sich die anderen, mit spontanen Äußerungen einzugreifen, eine Bemerkung zu wiederholen, vielleicht in einer rhythmischen oder melodischen Form, mit einem Wort zu spielen, eine Frage zu singen, ein Leid mit Klagetönen, eine Freude mit Jubel zu teilen. Ein Gefühl entsteht, was angemessen und stimmig ist, das Vertrauen wächst, von den anderen getragen und nicht im Stich lassen zu werden, wenn eine sich öffnet. Manche tanzen, nehmen andere mit. Manche tun sich mit Worten schwer und legen ihr Gefühl in Lautmalereien. Jede legt ihr kleines Herz auf den Tisch und bekommt es gestärkt als großes

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