Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring

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Das Fest der Männer und der Frauen - Hans-Ulrich Möhring

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hob sie die Hände ein wenig, »… my hands are growing wings«, und er stellte die Salatschüssel ab, trat vor sie hin und stimmte in den Refrain ein: »My love, my love, how can I reach you, how can I touch you?« Wie aus einem anderen Leben. Er stockte kurz und sang in der Wiederholung statt des Textes eine Lautfolge, die sie im ersten Moment verwirrte: »Lalaa, lalaa, hakani ino, hakani uro.« Hn? Na, hatte so, ungefähr so, nicht das ursprünglich nordafrikanische Lied in Sofies Phantasiesprache geklungen? als sie es seinerzeit im Bandbus zum ersten Mal vom Tonband abhörten? Ja, genau! Ihre Augen wurden weit von Erinnerung und leuchteten ihn an, als sie weitersang, von ihm begleitet mit halblaut gebrummten Vokalisen, bei denen er von der Melodie in Tondehnungen, Synkopen und Melismen abhob, die fremdartig klangen; orientalisch? Seine Stimme, hörte Sofie, war ungeübt, doch sie erkannte das alte raue Timbre wieder, die Spannungsgeladenheit selbst im verhaltenen Ausdruck. Ein ungewohnter Ton schwang darin, etwas … Einsames. Sie wollte das genauer hören. Den Blick weiter auf ihn gerichtet sang sie noch zwei Lieder aus ihrem alten Shiva-Shillum-Repertoire, und wieder vokalisierte er zur Begleitung auf diese fremde Art. Vermied er bewusst den Text? Möglich. Warum? Sie trat um den Küchentresen, legte ihm eine Hand auf die Brust. In der Band damals war er doch der Mann fürs Wort gewesen, die Texte, die sie gerade gesungen hatte, stammten alle von ihm. Dass er seit langem kaum mehr sang, erst in letzter Zeit wieder ein bisschen, hatte er ihr erzählt. Aber irgendwas musste sich in seinem Verhältnis zur Musik verändert haben, nach den Tönen zu urteilen, die er machte. Was?

      »Schwer zu sagen, Sofie.« Er nahm ihre Hand, legte ihr den Arm um die Taille. Ihr Körper war heiß. Blue flame. »Und heute gar nicht mehr, Liebes. Morgen vielleicht.«

      Allerdings! Bo kicherte, als sie unter der Eisenbahnbrücke durchfuhren und Sofie fragte, ob die ihm von damals noch im Gedächtnis war: die berühmte Hochbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal, das Wahrzeichen von Rendsburg sozusagen, und auf der anderen Seite dann die kilometerlange Schleife über der Stadt, die mit ihrem allmählichen Gefälle den Höhenunterschied zwischen der Brücke und dem kanalnah gelegenen Bahnhof ausglich. Doch, an die hatte Bo eine Erinnerung, das heißt, eigentlich war es eher eine Erinnerung an seinen Vater, daran, wie dieser mehrmals mit drastischer Mimik von der Kacke erzählt hatte, die immer mal aus den Zugtoiletten auf die unter der Schleife liegenden Grundstücke platschte. Auch wenn seine Frau ihn jedes Mal dafür rüffelte, dass er seinen Söhnen ein schlechtes Vorbild abgab. Er schaute auf den Stadtplan. »Da vorne dann rechts, Sofie.«

      Sie fuhren hinter dem Kanaltunnel noch ein Stück nach Norden und standen wenig später vor dem Hauptgebäude des achteckigen Bundeswehrkomplexes, über den Albert Bodmer einst den Befehl geführt hatte. »Flugabwehrschule« stand über dem Eingang. Bo schüttelte den Kopf. In seiner Erinnerung war das Gebäude viel höher gewesen, nicht so langgestreckt. Dunkel auch die Erinnerung an den klotzigen Backsteinbau der Volksschule auf der anderen Eiderseite, wo er 1958 eingeschult worden war und ein halbes Jahr die Schulbank gedrückt hatte. Für Ingo war es in der vierten Klasse schon die dritte Schule gewesen. Danach hatten sich die Eltern getrennt, und der Bruder und er waren nach einem Jahr Süddeutschland und einem Jahr Norddeutschland mit der Mutter zurück nach Mainz gezogen. Sie gingen an der alten Wohnung vorbei. Er wusste noch, dass ihm nach der Butze, in der die Familie vorher in Regensburg gehaust hatte, diese Kommandeurswohnung im ersten Stock unheimlich luxuriös vorgekommen war. Sonst gab es kaum etwas, das er wiedererkannte. Zuletzt zog es ihn noch zur Eider. Seine deutlichste Erinnerung überhaupt war an eine Kanutour, die der Vater einmal mit den Söhnen gemacht hatte, eine Unternehmung mit Seltenheitswert. Kurz hinter der Stadt floss die Eider ein paar Kilometer unmittelbar neben dem Nord-Ostsee-Kanal, nur durch einen schmalen Landstreifen davon getrennt, und er hatte sich als Sechsjähriger vor Staunen gar nicht mehr eingekriegt, als sie so dicht neben einem Ozeanriesen gepaddelt waren.

      Eine Weile betrachteten sie das träge fließende schattige Wasser, von Weiden und Erlen gesäumt, dann kehrten sie um. »Bei dir zuhause ist sie noch ein schmales Rinnsal«, sagte Bo, »aber hier kann man sie schon als Fluss bezeichnen, wenigstens von der Breite her.« Sofie wedelte abwehrend mit der Hand. »Eigentlich sind es zwei Flüsse«, sagte sie. »Die Obereider bei uns hinterm Haus fließt in den Kanal und biegt kurz vor Rendsburg wieder ab. Aber hier ist sie rundum eingedämmt worden und bildet nur noch einen See, der keine Verbindung mehr zur Untereider hat. Hinter der Altstadt entspringt die quasi neu. Keine Ahnung, was da unterirdisch vor sich geht.« Das müsse er sehen, meinte Bo, und sie gingen flussaufwärts zum Anfang der Untereider in einer umgrünten Bucht. Zur größeren Bucht des Obereidersees war es von dort nur ein kurzes Stück durch die Altstadt. Eine Verbindung war nicht zu erkennen.

      »Die Flüsse habe ich immer geliebt«, sagte Bo auf dem Rückweg zum Auto. »In Mainz hatte ich meinen Stammplatz am Rhein, und in Frankfurt war der Main meine Rettung. Aber wenn es einen Fluss gibt, der mir vormacht, wie man mitten im Lauf abbricht und noch mal neu anfängt, dann sollte ich mir den vielleicht als Wappenfluss nehmen. Bei dem Sprung, der mir bevorsteht.«

      Sie stiegen ein und fuhren los, und Rendsburg versank ihm wieder im Nebel der Kindheit, in dem es zeitlebens geschlafen hatte. Auch Sofies Gedanken schweiften. »Apropos neu anfangen«, sagte sie nach den ersten Autobahnkilometern, »du wolltest mir doch noch dein Verhältnis zur Musik und den Texten erklären, nicht wahr? Dieser Ton, den du gestern abend in der Stimme hattest – hast du den irgendwoher, oder ist der einfach aus dir gekommen?«

      Bo zuckte die Achseln. Er wusste selbst nicht so recht, wie er das erklären sollte. Wie war sein Verhältnis zu den Tönen … oder zu den Worten? In ihm war alles im Schwimmen. Früher hatte es bei ihm immer beides gegeben, das Wort und die Musik, aber zusammengekommen waren sie eigentlich selten, und wenn, dann nicht lange. Am längsten noch in der Zeit mit der Band. Bei dem Dauer-High, auf dem sie alle geschwebt waren, hatten sich die Worte praktisch von selbst eingestellt… auch in der fremden Sprache … gerade in der fremden Sprache … und sie hatten irgendwie ihr Lebensgefühl getroffen, seines und das der anderen. Aber um tiefer zu gehen, um komplexere Sachen zu fassen, dazu hatten seine Rocktexte nie getaugt. Wenn er darum rang, etwas zu sagen, was ihm wirklich wichtig war, dann dachte er gar nicht an eine musikalische Umsetzung, schon gar nicht in die Musik seiner Jugend. Die war ihm gründlich fremd geworden. Waren ihr denn die alten Lieder nahe geblieben? Sofie wiegte den Kopf. »Sie waren mir vielleicht immer anders nahe als dir. Gerade die afrikanischen Melodien, die wir auf Numba bearbeitet haben, begleiten mich durch meinen Vater praktisch seit Kindertagen, und das wird wohl auch so bleiben. Ich habe nie so stark textbezogen gedacht wie du – darüber haben wir uns ja schon zu Bandzeiten die Köpfe heiß geredet, weißt du noch?«

      Er wusste.

      »Gregor hat mal gesagt, gerade weil ich vom Singen komme, wäre ich als Sprecherin so gut«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Weil ich vom Ton ausgehe. Damit könnte er recht haben. Auch bei einem Theaterstück oder einem Hörspiel hat der Text für mich immer sofort eine rhythmische, eine klangliche Gestalt, und wenn ich die Worte spreche, dann spreche ich vor allem diesen inneren Gesang, den Text hinter den Worten sozusagen. Weniger die äußeren Bedeutungen, die naheliegenden Betonungen. Eine Zeit lang war ich von Scat fasziniert: wie sich da der Text in freie Laute, Töne, Rhythmen auflöst und damit genauso viel sagt wie mit Worten; vielleicht mehr. Das Gefühl muss stimmen, das ist das Entscheidende. Wenn das Gefühl stimmt, geht ein Raum auf, wo du mit allem, was du sagst, was du intonierst, die Wahrheit sagst, mit jedem Schubidu.« Aus dem Grund war sie gegen die Kunststimmen der Oper fast genauso allergisch wie gegen die Schmalzstimmen der Schlager. Sie stimmten nicht. Der singende Mensch zeigte sich nicht in ihnen, er formte darin keine wahren Gefühle, sondern im einen Fall übersteigerte er das Gefühl in bodenlose Höhen, die im Leben niemals einzuholen waren, in bodenlose Höhen und in bodenlose Töne, und im andern nahm er nur hohle Posen ein, die umso gefühlloser waren, je mehr die Gefühle beschrien wurden.

      Bo nickte. Mit Oper und Schlager ging es ihm nicht viel anders, aber was das Fassen der Gefühle anging, war Schubidu ihm letztlich doch zu wenig. Gut möglich, dass ihm unterbewusst das Ideal einer Einheit von Text und Musik vorschwebte. Ein Zustand, wo Text und Musik ineinander übergingen, wo die Worte von sich aus zu singen begannen und

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