Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha
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Das Beispiel bezeugt, dass die eigentliche unpersönliche Einstellung mit Furchtlosigkeit vor dem Tod verbunden ist. Sie ist selten und bedarf einer längeren geistigen Vorbereitungszeit. Der Grad in dieser Kunst wird nur von wenigen Schülern erreicht. Wird dem Menschen diese Stimmung offenbar, transformiert sich das Phänomen der Anstrengung in Gelassenheit. Ein solcher Gestaltwandel ist verbunden mit einer veränderten Art der menschlichen Wahrnehmung. Auf dieser Stufe handelt der Mensch nicht mehr auf dem Fundament subjektiver Neigungen, sondern aus einer überpersönlichen Kraftquelle, die ihm bei seinen Tätigkeiten eine andere Art der Freude vermittelt.
Beim Phänomen der Ego-Rückstellung ist die Anstrengung noch dominant. Während die eigentlich unpersönliche Einstellung sehr selten vorkommt, ist das Phänomen der phasenweisen Ego-Rückstellung relativ häufig. Wir treffen es an, wenn Menschen anderen Menschen – aktuell in der sogenannten Willkommenskultur – helfen, bei konzentrierten, genau durchgeführten Arbeitsprozessen, die sich Zeit für das Detail nehmen, bei der Ausübung von Ehrenämtern, bei denen nicht Zeit gespart, sondern geopfert wird, aber auch bei anderen Handlungen, bei denen Anstrengung und ein bestimmtes Maß an Selbstdisziplin verlangt werden, bei Handlungen, die ein gewisses Maß an Rückstellung von Eigennutz und Eigeninteresse beinhalten. Wird auf dieser Stufe unpersönlich gehandelt, ordnet sich der Mensch in einem zeitlich begrenzten Rahmen einer Sache unter, der er dient. Er schränkt während dieser Zeit eigene Bedürfnisse ein und stellt sein Ego hintan.
Das Phänomen der phasenweisen Ego-Rückstellung ist ein oft gefordertes Verhalten. Die Welt verlangt in vielen Situationen, unser Ego zurückzunehmen, um das Weltganze zu achten. Die Ethik der natürlichen Welt misst sich an solchen Handlungen, die nach außen hin als „uneigennützig“ gelten. Was „eigennützig“ und „uneigennützig“ ist, klärt die Frage: Wo ist das Ego an der Handlung beteiligt? Wo versteckt sich Eigennutz? Erst wenn der Mensch sein Motiv erkennt, gelangt er auf eine tiefere ethische Ebene. Oft sind die gutgemeinten Handlungen vom Antrieb des Egos manipuliert und bleiben in der persönlichen Handlungsdimension gefangen. Der Mensch im Widerspruch entspricht der ethischen Pflicht nach Vorgabe und kann zumeist nicht differenzieren, wo sein Ego an der Handlung beteiligt ist.
Es gibt aber noch eine dritte, untere Stufe im Spektrum des Unpersönlichen, die mit dem Phänomen des Unpersönlichen scheinbar nichts mehr zu tun hat. Sie beschreibt die Entwicklung der reinen Egodimension, die Voraussetzung für die Entwicklung des Unpersönlichen ist. Erst in der Angsterfahrung, im Erleiden der Enge kann der Umschlag in die Befreiung des Menschen zu sich selbst erfolgen. Das Ego-Wachstum ist auf den Besitzmodus der Bedürfnisund Konsumorientierung ausgerichtet. Diese Dimension findet ihren Sinn im Zusammenbruch des Menschen, aus dem eine andere Dynamik hervorgehen kann. Deshalb ist das Ego-Wachstum notwendige Voraussetzung14 für eine spätere Transformation. Denn einem Ego kann nur Einhalt geboten werden, wenn es Stärke besitzt. Ohne ein sich hartnäckig behauptendes Ego gibt es keine echte menschliche Transformation. Deswegen ist auch diese untere Stufe des Spektrums der Motivdynamik vom Entwicklungs- und Wachstumsprozess her betrachtet nicht nur durch und durch positiv zu sehen, sondern auch als not-wendig zu akzeptieren.
3. Inwieweit ist der ALDI-Unternehmensgeist unpersönlich?
Rufen wir uns Dieter Brandes’ Feststellung noch einmal ins Gedächtnis: „Das Unpersönliche ist durchaus Teil der ALDI-Kultur.“ Nach dem bisher Betrachteten kann man Brandes nicht widersprechen, obwohl sein Urteil – differenziert betrachtet – sehr mit Vorsicht zu genießen ist. Die entscheidende Frage ist nämlich: Wo ist der ALDI-Unternehmens-Geist im Spektrum des Unpersönlichen anzusiedeln?
Wir erinnern uns, dass bei ALDI darauf geachtet werde, dass Mitarbeiter Persönlichkeitskriterien wie Verschwiegenheit, Sparsamkeit, Askese, Detailliebe, Konsequenz oder Selbstdisziplin erfüllen sollten, da für einen wirtschaftlichen Wachstumserfolg psychosoziale Werte von zentraler Bedeutung seien. Wir prüfen diese Vorgaben anhand der Recherchen von Martin Kuhna und der kritischen Ausführungen des ALDI-Managers Eberhard Fedtke. Unter dem Thema „Charakterfragen“ beschreibt Kuhna die herausragenden Wesenszüge der beiden Brüder – Sparsamkeit, Uneitelkeit, Bedürfnislosigkeit, Scheue und Verschwiegenheit – in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit.
Fedtke betont, die öffentliche Zurückhaltung sei im Blick auf die Konkurrenz eine sinnvolle Strategie, nennt dieses Phänomen aber provokant „ALDI-Burka“ und unterstellt den Albrechts, sie „hätten sich ihrer regionalen Geschäftsführer ‚bedientʻ, um das Publizitätsgesetz zu umgehen. Er sieht sogar einen leichtfertigen Umgang mit dem Gesetz an der Grenze zur Sittenwidrigkeit. Für ihre höherwertige Tätigkeit werde den Geschäftsführern auch nicht mehr Geld bezahlt.15 Richtet sich das Motiv des Verschweigens nur auf die Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit, ist es kein eigentlich unpersönliches, sondern ein auf sich selbst gerichtetes.
Auch sei das Harzburger Modell der Kompetenz- und Aufgabendelegation in Wirklichkeit ein frei über allem schwebendes, zentrales Machtorgan, in dem der Verwaltungsrat von oben nach unten regiere und der Geschäftsführer nur der verlängerte Arm des Verwaltungsrates sei. Weil Erfolg recht gebe, sei es zwar legitim, Milliarden mit einem autoritären Unternehmenskonzept anzuhäufen. Peinlich sei aber der Selbstbetrug durch Vorgabe des Harzburger Modells. Gibt sich das Motiv der Kompetenz- und Aufgabendelegation nach unten nur den Anschein der Machtabgabe, ist es kein eigentlich unpersönliches, sondern ein auf sich selbst gerichtetes.
Nicht bestritten wird das Merkmal der Sparsamkeit, wenngleich die Grenze zum Geiz betont wird. Die Albrechts trugen dazu bei, dass sich auch ärmere Leute genügend Lebensmittel leisten können. Durch ihre Strategie lernten die Deutschen, Lebensmittel müssen nicht teuer sein. Die Kehrseite der Medaille sei aber im Ursprung der Lebensmittel-Produktionskette angesiedelt. Bei Niedrigmilchpreisen gerieten Preise allgemein unter Druck und für die Milchbauern werde es immer schwerer, kostendeckend zu arbeiten.
Wenn Aldi Fleisch, Eier, Gemüse und Obst zu Kampfpreisen feilbietet, dann kann beides nur unter extrem industrialisierten Bedingungen produziert worden sein: Massentierhaltung mit allen Begleiterscheinungen, intensive Landwirtschaft, massiver Einsatz von Medikamenten, Dünger und Pestiziden. Eigentlich gefällt so etwas den Deutschen gar nicht, aber sie haben sich eben, nicht