Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha
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Obwohl ALDI-Mitarbeiter zu jeder Zeit vorbildlich bezahlt wurden, sind die Personalkosten dort niedriger als anderswo, insbesondere bei ALDI Süd. In den 90er-Jahren und nach der Jahrtausendwende seien die Filialen häufig unterbesetzt gewesen, einzelne Mitarbeiter mussten ohne Lohnausgleich schneller oder länger arbeiten, zudem sei Druck auf Kranke ausgeübt worden, zur Arbeit zu erscheinen. Länger dienende Angestellte höherer Gehaltsklassen seien durch neue ersetzt worden, Vollzeitkräfte durch Teilzeitkräfte und Angestellte durch Azubis und Praktikanten, immer unter der Maßgabe, der Ersatz sei billiger als der Ersetzte. Der Kampf um die Stellen hinter dem Komma lasse ALDI zu einem rücksichtslosen Arbeitgeber werden. Geht das Motiv der Sparsamkeit in Form von Dumpingpreisen zulasten der Umwelt, der Tiere und Landwirte, ist es kein eigentlich unpersönliches, sondern ein auf sich selbst gerichtetes.
Auch beim Wertkriterium der Bedürfnislosigkeit stellten sich Zweifel ein. So sollen die Brüder in späterem Alter golfsüchtig geworden sein und sich deshalb häufig im exklusiven Essener Haus Oefte getroffen haben. Karl baute in Donaueschingen sogar ein Hotel mit Golfplatz und nebenan sein – zwar unauffälliges – Haus. Theo Albrecht sei ein Milliardär von trauriger Gestalt gewesen, der sich bis auf die täglichen Kaffeeproben selten über etwas freuen konnte. Dabei sei die Freudlosigkeit keineswegs die Folge seines katholischen Arbeitsethos’ gewesen, sondern eher einer protestantisch-puritanischen Weltsicht entsprungen, in der Fleiß und Genügsamkeit nicht der Befriedigung weltlicher Begierden dienen sollten. Die Albrechts hatten keine Yacht, keinen Privatjet oder exklusive Ferienhäuser. Ihre Genügsamkeit prägte das Unternehmen. Aber an ihrem Vorbild an Schlichtheit hatten sich auch die Mitarbeiter zu orientieren. Deren Lebensstil sollte ebenfalls ohne Extravaganzen und soziale Auffälligkeiten bleiben. Eigentlich ein schönes Motiv, aber für Kuhna grenzwertig, weil zwei Männer ihren Lebensstil zum Maßstab für ein ganzes Unternehmen machten. Wird das Motiv der individuellen Bedürfnislosigkeit zur verpflichtenden Vorschrift für eine ganze Gemeinschaft, ist es kein eigentlich unpersönliches, sondern ein auf sich selbst gerichtetes.
Nicht zuletzt wird auch das Phänomen des Menschlichen angesprochen. Den Brüdern wird bescheinigt, dass sie außerhalb der Familie nur wenig soziale Kontakte pflegten und kaum Freunde hatten. Für Karl gab es außer der Nähe zu seiner Frau nur menschliche Distanz. Bei aller Höflichkeit und Freundlichkeit waren beide Brüder „distanziert“. Es gab keine betrieblichen Veranstaltungen, keine Feste oder Feiern, Geschäftsführertreffen galten als qualvoll monoton, Diskussionen seien nur vorgetäuscht worden, in Wirklichkeit galt es, Vorgegebenes zu übernehmen. Gemeinsame Abendessen unterlagen bizarren Ritualen:
So wurde gemeinsamer Gesang typischer Volkslieder immer mit ‚Prost, prost, meine Herren, wir wollen uns einen verlötenʻ beschlossen, wobei im zweiten Durchgang immer an derselben Stelle gestoppt wurde. Wer weitersang, musste Strafe zahlen. Anschließend: Bettruhe. Das Essen war bescheiden, ‚verlötetʻ wurde gar nichts, und Theo Albrecht hatte sich meist zu Beginn des Gesangs verabschiedet.17
Ein Ex-ALDI-Manager kommt 2012 zu dem Urteil, ALDI sei letztlich ein System, das versuche, frei von Menschen zu sein. Es bezahle gut, aber damit sei gleichzeitig auch der menschliche Faktor abgegolten. Der ALDI-Kritiker Straub bezeichnete das Unternehmen gar als „gnadenloses System“.
Wie es anders als bei den Albrechts gehen könnte, zeigt Kuhna am Beispiel des Schuhkönigs Horst Deichmann, der nach der Aushilfe im elterlichen Geschäft Medizin studierte und bis 1956 als Arzt arbeitete. Auch er entwickelte eine Filialkette, machte Milliardenumsätze und expandierte ins Ausland. Doch er erhob die Sparsamkeit nicht zum persönlichen Markenzeichen, sondern legte Wert darauf, dass das Denken grundsätzlich über ein Renditedenken hinausgehen und Geld einem guten Zweck dienen müsse. Ein Unternehmen solle den Menschen, den Kunden, den Mitarbeitern und der Gesellschaft dienen. Deichmann bezahlte überdurchschnittliche Löhne, bot sichere Arbeitsplätze und ein gutes Betriebsklima. „Auf Kritik an der Schuhproduktion in Entwicklungsländern reagierte Deichmann sensibel und verwies auf aktive Bemühungen um faire Arbeitsbedingungen. Seit 1977 betrieb Deichmann ein Hilfswerk zur Verbesserung von Bildung, medizinischer Versorgung und Infrastruktur in Indien und Afrika.“18 Er war indischer Honorarkonsul, trat als großzügiger Förderer kultureller, schulischer und medizinischer Projekte in Erscheinung, hatte Charme und war bescheiden, aber nicht knausrig.
Bei der Frage, wo der ALDI-Unternehmens-Geist im Spektrum des Unpersönlichen anzusiedeln sei, müssen wir unser anfängliches Urteil der Albrecht’schen Tugendhaftigkeit relativieren. Die ethischen Intentionen gehen weit, aber vielleicht nicht weit genug. Am Ende wird deutlich, dass auch Tugenden wie Askese, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Detailliebe und Konsequenz nicht unbedingt mit einer egoüberschreitenden Motivdynamik zusammengehen müssen. Möglicherweise ist auch hier die Angst im Spiel, einmal erreichten Besitz wieder verlieren zu können. Angst vor der wiederkehrenden Enge der Nachkriegszeit? Verschwiegenheit als Angstmotiv, im Wettbewerb von anderen ausgebootet zu werden? Wie dem auch sei, die wahre Motivdynamik konnten die Brüder nur in sich selbst erkennen. Jeder Blick von außen, jedes an bestimmten Verhaltensweisen gefällte Urteil, kann die tieferen Motive des anderen – wenn überhaupt – nur bedingt erreichen. Es gelingt treffend, wenn der Urteilende selbst einen Meistergrad im Urteilen erreicht hat. Dies aber ist, wie wir gesehen haben, sehr selten.
So meinen wir: Das Unpersönliche ist ein Teil der ALDI-Kultur, aber es ist kein eigentlich Unpersönliches. Natürlich ist ALDI auch kein nur auf den eigenen Profit hin ausgerichtetes Unternehmen, sondern hat den Menschen in der Gesellschaft im Blick, vielleicht nicht so congenial wie Deichmann, was auch mit dem Bildungsstand der Brüder zu tun haben mag. Wie dem auch sei, sie verliefen sich, obwohl in redlicher Absicht, immer wieder in den Fängen des Egos. So siedeln wir den ALDI-Unternehmensgeist irgendwo in der Mitte des Spektrums des Unpersönlichen an. Denn gemäß der Heisenberg’schen Erkenntnis lässt sich der Ort nicht genau bestimmen, wenn Impulsmessungen präzise festgehalten werden. Und da wir die Impulse der ALDI-Kultur sehr genau nachgezeichnet haben, entzieht sich uns der Ort des unpersönlichen Geschehens zwangsläufig. Dieses Gesetz scheint insbesondere für ALDI zu gelten, einem Phänomen, das sich der Öffentlichkeit nur sehr widerwillig zu zeigen wagt.
1Martin KUHNA, Die Albrechts. Auf den Spuren der ALDI-Unternehmer. München 2015. Vgl. 179ff.
2 Ebd., 79: „… sie werden voraussichtlich bis an ihr Lebensende schweigen und schweigen lassen.“
3Dieter BRANDES, Konsequent einfach. Die ALDI-Erfogsstory. Frankfurt/a.M. 1998, 14. Martin Kuhna (a.a.O., 57) sieht die Darstellung von Dieter Brandes allerdings „extrem wohlwollend“, an einer anderen Stelle auch „verklärend“ (95). Er vergleicht die Beschreibungen der Ex-ALDI-Manager Dieter Brandes und Eberhard Fedtke (ALDI Geschichten. Ein Gesellschafter erinnert sich. Herne 2012), die den Konzern von innen kennen, einschlägige Erfahrungen besitzen, aber zu sehr unterschiedlichen Beurteilungen kommen. Während Brandes ALDI sehr zugetan ist, bringt Fedtke auch Kritik am Unternehmen. Wir folgen zunächst Brandes, weil dessen Sichtweise eine philosophisch-ethische Dimension öffnet. Später werden wir sehen, inwieweit diese Dimension bei ALDI der Realität standhält.
4 Martin KUHNA, a.a.O., vgl. 55ff. Kuhna bezweifelt die Meinung von Brandes, die Teilung als wichtigste Dezentralisation des Unternehmens sei damals Konzept-Punkt gewesen und meint, die Brüder hätten es wegen ihrer unterschiedlichen Geschäftsauffassungen miteinander einfach nicht mehr ausgehalten.
5 Dieter BRANDES, a.a.O., vgl. 24. Martin Kuhna urteilt etwas vorsichtiger: „bedürfnislos bis an die Grenze der Askese“.