Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha
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Weil die aus der notwendigen Sparsamkeit entstandene Vermeidung von Verschwendung konsequent eingehalten wurde, avancierte ALDI 1980 zum erfolgreichsten Lebensmittel-Einzelhändler aller Zeiten. Bis in die Neunzigerjahre hat sich am Konzept des Unternehmens nichts geändert. Die landläufige Meinung vieler Analysten war, ALDI müsse sein Sortiment irgendwann ausdehnen und andere, bisher nicht praktizierte Prinzipien aufnehmen, um weiteres Wachstum erzeugen und so dem Wettbewerbsdruck standhalten zu können. Aber ALDI verfolgte die eigene Politik, die eigenen Grundsätze konsequent weiter. Die Artikelzahl wurde im Wesentlichen nicht erhöht, obwohl nach Erreichen einer bestimmten Umsatzgröße auch Non-Food-Aktionsartikel und Obst- und Gemüseartikel in das Sortiment aufgenommen wurden. Der Erfolg des Unternehmens ist nach wie vor ungebrochen.
1. Das ALDI-Konzept
Der heute inflationär verwendete Begriff „Unternehmensphilosophie“ ist bei ALDI nicht vorhanden. Das Unternehmen passte sich zwar schrittweise an die Bedingungen des Wettbewerbs und die Märkte an, die dahinterstehende Strategie war aber eher intuitiv geleitet, das praktische Handeln durch wachsende Reflexion kontrolliert. Nach dem ersten Jahrzehnt schien sogar alles auf einen Zusammenbruch hinzusteuern, als 1959 die aufkommenden Selbstbedienungsmärkte die Preise von Albrechts Tante-Emma-Läden unterboten. Aus der Not musste ein neues Geschäftsmodell entwickelt werden. Die Albrechts stellten auf Selbstbedienungsläden unter dem Namen „Alio“ um, die aber mit roten Zahlen floppten. Das Unternehmen stagnierte im Jahr des Mauerbaus 1961, der Unternehmenskurs war desorientiert, der Erfolg gefährdet. In dieser Krisenzeit teilte sich das Unternehmen in ALDI Nord und ALDI Süd, ein wichtiger Schachzug, der dem Konzern weiteres Wachstum bringen sollte.4 Zur selben Zeit teilte sich Deutschland in Ost und West.
ALDI hatte nie ein ausgeklügeltes Geschäftskonzept entwickelt, sondern hielt sich an einige wichtige Grund-Prinzipien: Askese, Bescheidenheit, Detailarbeit und strenge Konsequenz.5 Diese vier für wirtschaftliche Analysen wenig aussagekräftigen Faktoren entstammen nicht so sehr dem rein ökonomisch ausgerichteten Denken, als vielmehr einer menschlich orientierten Lebenseinstellung. Sie zielt auf den Erfolg der Gemeinschaft, hier der Kundenklientel. Aus dem Gelingen des Sinnganzen kann auch individueller Erfolg hervorgehen. Die vier Prinzipien offenbaren ein Geschäftsbewusstsein, das zwar den eigenen Erfolg anstrebt, diesen aber nur durch den Erfolg des Gemeinwohls garantiert sieht. Eine solche Grundhaltung ist deshalb nicht „unternehmensphilosophisch“ abgegrenzt, sondern überschreitet die Grenzen partikularer Unternehmenspolitik; sie gründet in einer ethischen Einstellung. Es ist ein besonderes Verdienst von Dieter Brandes, diese vier Grundprinzipien herausgestellt zu haben, denn sie laufen für die meisten Menschen unbewusst und meist selbstverständlich, d.h. unerkannt ab. Wenn diese Eigenschaften analysiert werden, bewegen wir uns auf geisteswissenschaftlichem Gebiet, denn hier wird etwas ins Bewusstsein gehoben, das dem Menschen als Menschen eine besondere Stellung verleiht. Askese, Bescheidenheit, Detailarbeit und strikte Konsequenz sind als ethische Qualitäten schon im Altertum bekannt. Hier war der Grundsatz noch selbstverständlich, der besagte, nur in einem Staat, in dem es weder Armut noch Reichtum gebe, können sich die edelsten Sitten entwickeln.6 Von solchen Einsichten sind wir heute weit entfernt. Blickt man auf die Realität, müssen wir uns eingestehen, dass das Gegenteil in unserer globalisierten Gesellschaft gerade Gestalt annimmt.7 Ein unternehmerischer Erfolg, der sich ökonomisch ausweist, liegt aber primär im Vollzug allgemeinmenschlicher – und insofern nicht bloß ökonomischer – Qualitäten begründet. Was den Brüdern möglicherweise nicht bewusst war, was sie aber praktizierten (der Umfang wird noch zu untersuchen sein), war der Vollzug bereits vorliegender alter ethischer Einsichten.
Auf der Grundlage dieser Prinzipien galten bei Aldi weitere Strukturen, wie das der Geheimhaltung und der konsequenten Dezentralisation. Mit der klugen Politik der Konstruktion einer Familienstiftung verhinderte man zudem die Zerlegung des Unternehmens durch gerichtliche Auseinandersetzungen.
2. Der ALDI-Unternehmens-Geist
Für den Erfolg wesensbestimmend sind die unsichtbaren Dinge, die ungeschriebenen Regeln des Unternehmens, die – bis auf eine Ausnahme in der Stellenbeschreibung8 – bei ALDI niemals festgehalten worden sind. Sie bestimmen als kulturelle Werte und Normen den Betrieb von innen her und steuern das Denken, die Gefühle und das Handeln der Mitglieder. Es komme darauf an, allen Mitgliedern Klarheit darüber zu verschaffen, was „gut“ und „nicht gut“, was „erlaubt“ und „nicht erlaubt“ sei und was „belohnt und bestraft“ werde.
Wichtig sei hier das Vorbild und Beispiel von Inhaber und Führungskräften, die solche Regeln bei Besprechungen immer wieder thematisierten. Es komme darauf an, dass der Appell an solche Regeln nicht nur mechanisch und unmotiviert geschehe, sondern mit Leidenschaft erfolge. Sei die Unternehmenskultur in sich stimmig, dann sei sie auch effizient; ein aufwendiges Koordinations- und Kontrollsystem könne entfallen. Die dezentrale Führung, die kurz und präzise formulierten Stellenbeschreibungen und das ausgeklügelte Kontrollsystem in Form von Stichproben trügen zur Qualitätssicherung bei. Innerhalb des Kontrollsystems spiele die „Kulturkontrolle“ eine wichtige Rolle. Hier werde geprüft, ob Vorgesetzte Werte wie Glaubwürdigkeit und Übereinstimmung von Reden und Handeln an ihre Mitarbeiter weitergäben. Handeln heiße bei ALDI immer auch Beispiel sein.
Wichtigstes Wesensmerkmal bei ALDI ist das Grundprinzip Askese. Am Anfang wurde z.B. auf Telefone verzichtet, die Pausenräume für das Personal waren mit einfachem, zweckmäßigem Mobiliar ausgestattet und die Firmenwagen nicht luxuriös. So fuhr der Verwaltungsrat die kleinste Ausführung der S-Klasse ohne Sonderausstattung. Hier spielt die Einstellung der Bescheidenheit9 eine Rolle, die wahrscheinlich die Erklärung für die Unterschiede in den Erfolgsbilanzen liefert.
Ein weiteres Grundprinzip ist das der Sparsamkeit. Extremes Kostenbewusstsein vermeidet unnötige Ausgaben auf allen Ebenen. Dies wird z.B. bei der Verwendung der Rückseite von bereits beschriebenem Papier umgesetzt, beim Ausschalten des Lichts, wenn ein Raum genügend hell ist, bei der Optimierung der Lux-Zahlen in den Läden oder bei der Verwendung optimaler Kartongrößen (Efficient Consumer response). Theo Albrechts Büro war einfach ausgestattet. Er fuhr bis zu seiner Entführung 1971 keine Luxuslimousine und hatte bis zu diesem Zeitpunkt auch keinen Fahrer.
Bescheidenheit und Sparsamkeit bedingen den freiwilligen Verzicht auf Luxus und Statussymbole, aber auch ein damit verbundenes menschliches Auftreten, das wiederum sparsame und bescheidene Führungskräfte rekrutiert, die diese Werte weitertragen. Deshalb wird von ihnen eine bestimmte Selbstdisziplin erwartet, die für die Umsetzung der Prinzipien Sparsamkeit, Zurückhaltung gegenüber der Öffentlichkeit und Fairness gegenüber anderen erfordern. Weil es nicht leicht ist, eine solche Lebensweise zu praktizieren, müsse der Führungsnachwuchs aus den eigenen Reihen kommen. Er werde beobachtet und müsse sich über mehrere Jahre hinweg in diesen Tugenden durch verschiedene Abteilungen hindurch beweisen. Ein zum Geschäftsführer Berufener müsse zunächst Filialleiter, dann Lagerleiter, Verkaufsleiter und Bezirksleiter gewesen sein, bevor er seine Verantwortung als Geschäftsführer oder gar Verwaltungsrat wahrnehmen könne. Schon bei der Einstellung werde also darauf geachtet, ob die Persönlichkeit eines Mitarbeiters entsprechende kulturelle Werte verkörpere, denn diese seien wichtiger als ein Harvard-Diplom oder einschlägige Erfahrungen bei McKinsey. Mitarbeiter werden also primär nach diesen kulturellen Persönlichkeitskriterien ausgewählt und eingestellt, erst in zweiter Linie nach ihrer Qualifikation.
Für den wirtschaftlichen Wachstumserfolg bei ALDI sind also psychosoziale, d.h. menschlich-geistige Werte von zentraler Bedeutung. Die Frage nach der Persönlichkeit