Goldmarie auf Wolke 7. Gabriella Engelmann

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Goldmarie auf Wolke 7 - Gabriella Engelmann

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fuhr der Therapeut auch schon fort: »Also, liebe Marie! Was bedrückt dich so sehr, dass du es vorziehst, immer mal wieder zu verschwinden, anstatt das Leben zu genießen und so fröhlich zu sein, wie wir es uns von einem jungen Mädchen wünschen?« Bevor ich antworten konnte, schossen salzige Tränen wie Sturzbäche aus meinen Augen. Stammelnd reihte ich ein paar Worte aneinander: Vater tot, Mutter auf Nimmerwiedersehen verschwunden, Stiefmutter, Stiefschwester, zu wenig Geld und Einsamkeit. Ich verbrauchte mindestens zehn Kleenex, bis ich mich halbwegs wieder unter Kontrolle hatte. Dr. Hahn betrachtete meinen Ausbruch mit einer Emotionslosigkeit, zu der ich persönlich niemals in der Lage gewesen wäre. Wenn in meiner Nähe jemand anfing zu weinen, verspürte ich – egal, ob ich denjenigen kannte oder nicht – das Bedürfnis, ihn zu trösten.

      Lykke bezeichnete das immer ziemlich gehässig als Helfersyndrom oder nannte mich gleich Engel der Barmherzigkeit. Sie selbst blieb meistens ziemlich unberührt, wenn jemand traurig war. Es machte ihr auch nie etwas aus, sich zu streiten oder offen ihre Meinung zu sagen und sich über die Gefühle anderer hinwegzusetzen. Nachdem ich mich halbwegs wieder beruhigt hatte, war die Zeit tatsächlich auch schon um: »So, meine Liebe, das war für heute eine ganze Menge und ich finde, du hast das ganz toll gemacht! Ich denke, ich weiß jetzt ein bisschen was über dich. Deshalb würde ich vorschlagen, dass wir uns ab jetzt regelmäßig jeden Dienstag um sechzehn Uhr sehen. Ich weiß zwar, dass ihr in der Schule genug zu tun habt, aber ich möchte dir trotzdem eine kleine Aufgabe für den nächsten Termin geben. Ich möchte, dass du einen Brief an deinen Vater schreibst und ihm erzählst, wie es dir nach seinem Tod ergangen ist.« Fragend sah ich ihn an. Wozu das?

      »Der Brief muss nicht besonders lang sein. Schreib einfach auf, was du tief in deinem Inneren fühlst. Und dann schauen wir uns das Ergebnis nächste Woche gemeinsam an, in Ordnung?« Dr. Hahn rückte seine Fliege zurecht (Ja! Er trug Anzug und Fliege!), begleitete mich nach draußen, rief »Jorinde, wir sind fertig«, drehte sich dann um und schloss hinter mir die Tür. Ein wenig benommen stand ich am Empfangstresen und musste mir schon wieder die Nase putzen. »Aber Goldschatz, du bist ja ganz blass«, rief Jorinde besorgt. »Möchtest du vielleicht einen Tee? Ich hab auch Kekse, wenn du magst.« Dr. Hahns Sprechstundenhilfe strahlte so viel Herzlichkeit und Wärme aus, dass ich nicht anders konnte, als Ja zu sagen. Und so saß ich wenige Minuten später zusammen mit ihr vor dampfend-heißem Vanille-Sahne-Tee und knabberte dazu Zimtsterne. »Ist noch ein bisschen früh für Weihnachtsgebäck, ich weiß.« Jorinde lächelte und strich sich spielerisch über den Rock, der um ihre Hüften ziemlich spannte. »Aber ich bin heute beim Bäcker darüber gestolpert und konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. Wie sieht’s aus, Herzchen? Welche Plätzchen backst du denn zusammen mit deiner Mutter?« Obwohl ich gedacht hatte, es sei kein einziger Tropfen Flüssigkeit mehr in mir, begann ich, wie auf Kommando erneut zu schluchzen. Im Gegensatz zu Dr. Willibald Hahn war Jorinde Machandel feinfühlig genug, das zu tun, was das einzig Richtige in diesem Moment war: Sie drückte mich an ihre große, mütterliche Brust und wiegte mich in ihren weichen Armen wie ein kleines Kind.

      4.

      Die Feenkönigin sah hinunter auf die Erde und schüttelte den Kopf über all das, was sie dort erblickte: Über den großen Städten lagen die Autoabgase wie eine graue Nebelglocke. Geldgierige Banker setzten das Vermögen anderer ohne jeden Skrupel aufs Spiel. Und Politiker sorgten mit ihren Handlungen immer wieder für Krieg anstatt für Frieden. Doch dann entdeckte die Königin mitten in einer großen Stadt ein junges Mädchen, das an einer Bushaltestelle stand und den kleinen Rauhaardackel einer alten Dame streichelte. Die Feenkönigin staunte. Zwar war auf den ersten Blick an dieser Szene nichts ungewöhnliches, doch das Mädchen war von einer gold schimmernden Aura umgeben. Neugierig betrachtete sie die Gestalt genauer und blickte in die traurigsten Augen, die sie seit Langem gesehen hatte. Mit wachsamem Blick folgte die Königin der Erdenbewohnerin auf ihrem Heimweg in den Stadtteil St. Pauli, der aus ihrer Sicht nur bedingt als Wohnort für ein so junges, zartes Wesen geeignet war. Das Mädchen betrat eine Wohnung, in der offenbar noch ein anderes lebte, nur ein Jahr älter als die Goldene. Dieses andere Mädchen schien das komplette Gegenteil zu sein. Ihre Aura war dunkel gefärbt von Zorn und schlechten Gedanken. An der Stelle, an der das Sonnenmädchen ihr Herz trug, konnte die Feenkönigin bei der Tochter des Mondes nur einen schwarzen Klumpen, stinkend wie Teer entdecken. Diese beiden waren wie Feuer und Wasser, Tag und Nacht, Sonne und Mond – kein Geschwisterpaar hätte gegensätzlicher sein können.

      Als die Mutter der beiden nach Hause kam und die Stimmung in der winzigen Wohnung so frostig wurde, dass die Feenkönigin zu frieren begann, beschloss sie, dass es an der Zeit war, die Erde wieder zu verlassen. Sie würde dorthin zurückkehren, wo sie in der Lage war, goldene Schicksalsfäden zu spinnen und damit die Wege mancher Menschen zu beeinflussen.

      5. Marie Goldt

      (Mittwoch, 9. November 2011)

      »Findest du, dass uns das steht?«

      Ich musste lachen, als Finchen und Julia in schwesterlichem Partnerlook vor mir standen, beide eine Wollmütze mit Tiergesicht auf dem Kopf. Julia trug die Version »Panda«, ihre vierjährige Schwester Finja dasselbe Modell, Motiv Teddybär. Ich selbst liebäugelte mit Chunky Red Heart Slippern, einer Art Hüttenschuh-Stiefel mit Kunstfellbesatz, Bommeln und roten Herzchen darauf, sowie dazu passenden Pulswärmern. »Sieht nach einem totalen Kauf-Muss aus«, grinste ich und beäugte das Preisschild der Slipper. Neunundzwanzig Euro, das war definitiv zu teuer für mich. Finja stolzierte wie ein Topmodel durch den Laden und zeigte allen Kunden, wie niedlich sie mit der Bärenmütze aussah. Dann war sie von einer Sekunde auf die andere durch die Ladentür verschwunden, um ihre Beute dem weitaus größeren Publikum auf der belebten Mönckebergstraße vorzuführen.

      »Halt, hiergeblieben, junge Dame«, rief ich, packte Finchen an der knallroten Kapuze und beförderte sie wieder zurück. Mittlerweile war auch eine Verkäuferin auf uns aufmerksam geworden, weil die Alarmanlage losgegangen war, was Finja jedoch völlig unbeeindruckt ließ.

      »Sie ist eine kleine Ausreißerin«, entschuldigte Julia sich und gab ihrer Schwester eine leichte Kopfnuss, was diese mit einem genervten »Menno« kommentierte. Ich versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, auch wenn ich mich innerlich über Finchen kringelig lachen musste. Sie war die geborene Schauspielerin.

      »Und? Bist du jetzt gerüstet für dein Date mit André?«, wollte ich wissen, nachdem Julia die beiden Mützen bezahlt hatte und dachte, dass der neue Hottie an der Schule bescheuert sein musste, wenn er ihre Gefühle nicht endlich erwiderte. »Ich denke schon. Vorausgesetzt, dass es am Freitag nicht so warm wird wie heute«, grinste Julia siegessicher. »Sonst muss ich umdisponieren.«

      Als wir unseren Lieblingsladen Accessorize verlassen hatten, schlug uns ein Schwall schwüler, abgasschwerer Luft entgegen. Der Eiswind war einem Hochdruckgebiet gewichen – ein spontaner Wetterwechsel, wie so häufig in diesem Jahr.

      Ich hielt Finja an der Hand, damit sie uns nicht entwischen und vor einen der Busse laufen konnte, welche die beliebte Hamburger Einkaufsstraße mit ziemlichem Tempo rauf- und runterfuhren. Unser nächstes Ziel war das Café Vivet in der Spitalerstraße, in dem es den besten Rüblikuchen jenseits der Schweiz gab. Finja hatte eine Schwäche für die kleine Karotte aus Marzipan, die auf dem locker-luftigen Traum aus geraspelten Karotten, Haselnüssen und Aprikosenmarmelade thronte. Sie war immer erst zufrieden, wenn wir unseren Stadtbummel abschließend mit dieser Köstlichkeit krönten.

      Nachdem wir bestellt hatten, ging ich zur Toilette.

      Dort musste ich ein paarmal tief durchatmen, denn es nagte ein wenig an mir, dass ich im Gegensatz zu Julia so sparsam sein musste. Ludmilla zahlte mir nur fünf Euro neunzig die Stunde. Um gegen mein negatives Gefühl anzukämpfen, wusch ich mir erst mal das Gesicht mit kaltem Wasser und schaute dann in den Spiegel: Ich sah ein hübsches Gesicht mit grünen Augen, das lange, rotblond gelockte Haar zu einem dicken Zopf gebunden. Meine Nase konnte man durchaus als markant bezeichnen, eindeutig Papas Erbe. Die hohen

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