Goldmarie auf Wolke 7. Gabriella Engelmann
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Und sie sah, wie sehr es sich nach Liebe und Geborgenheit sehnte …
8. Marie Goldt
(Freitag, 11. November 2011)
Froh, endlich daheim zu sein, warf ich mich aufs Bett und starrte an die Zimmerdecke. Der gestrige Dienst in der Bäckerei war nervig gewesen und ich war nicht das erste Mal kurz davor, alles hinzuschmeißen. Auch die Schule war heute alles andere als ein Spaziergang. Gib der schlechten Laune keine Chance, sondern gönn dir lieber etwas Schönes, wisperte eine innere Stimme. Nimm ein Schaumbad und lass die Welt für einen Augenblick einfach Welt sein … Gedacht – getan! »Lykke ist es okay, wenn ich die nächste Stunde das Bad blockiere? Wenn du auf die Toilette musst, würde ich das an deiner Stelle jetzt tun«, rief ich vom Flur aus, erhielt jedoch keine Antwort. Wahrscheinlich war Lykke wieder abgestöpselt und hörte mich nicht. Also klopfte ich an der Tür, wartete einen Moment und betrat dann das Zimmer. Dort war weit und breit keine Spur meiner Stiefschwester, die freitags in der Regel früher nach Hause kam als ich. Sie hatte das Fenster offen gelassen und ich ging hin, um es zu schließen. Vor dem Schreibtisch blieb ich stehen. Auf der Tastatur des PCs lag ein wunderschön illustriertes Buch. Neugierig linste ich hinein:
Wilhelm Busch (1832–1908)
Herbst
Der schöne Sommer ging von hinnen,
Der Herbst, der reiche, zog ins Land.
Nun weben all die guten Spinnen
So manches feine Festgewand.
Sie weben zu des Tages Feier
Mit kunstgeübtem Hinterbein
Ganz allerliebste Elfenschleier
Als Schmuck für Wiese, Flur und Hain.
Ja, tausend Silberfäden geben
Dem Winde sie zum leichten Spiel,
Sie ziehen sanft dahin und schweben
Ans unbewusst bestimmte Ziel.
Sie ziehen in das Wunderländchen,
Wo Liebe scheu im Anbeginn,
Und leis verknüpft ein zartes Bändchen
Den Schäfer mit der Schäferin.
Den letzten Absatz hatte Lykke mit einem gelben Leuchtstift markiert und ein Herzchen daneben gemalt. Gedankenverloren verriegelte ich das Fenster und ging kopfschüttelnd ins Bad. Wer hätte gedacht, dass meine Schwester Gedichte mochte? Eigentlich war nur ich diejenige, die gern mal eine Romantic-Comedy las, und musste mir dafür immer den Spott von Lykke anhören, die fast nur Thriller in ihrem Bücherregal stehen hatte. Bedeuteten die Herzchen etwa, dass sie gerade verliebt war?
Während die wohlige Wärme und der beruhigende Duft des Schaumbads mich umschmeichelten, dachte ich an Julia und ihre Verabredung mit André. Und an Morten, der mich gestern gefragt hatte, ob wir mal zusammen einen Tee trinken gehen würden.
Ich überlegte gerade, wie ich dieses Date noch in meinen übervollen Terminkalender quetschen sollte, als mein Handy klingelte. Vermutlich war es Julia, die mir Fotos von verschiedenen Outfits zur Begutachtung schicken und wissen wollte, ob ich on war. »Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte sie und klang, als sei sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
»Nichts Besonderes. Ich wollte vielleicht den Brief an meinen Vater schreiben, den Dr. Hahn bis Dienstag haben will, und danach früh ins Bett, weil ich morgen arbeite. Wieso?«
»Stimmt, du musst in die Bäckerei«, kam es enttäuscht vom anderen Ende der Leitung. »Das ist ja doof, denn ich wollte dich bitten, spontan als Babysitter für Finchen und Elric einzuspringen. Meine Eltern sind zu einem wichtigen Geschäftsessen eingeladen und Nele, die sonst aufpasst, ist plötzlich krank geworden.«
»Und du bist mit André verabredet«, antwortete ich, als mir klar wurde, was für Julia auf dem Spiel stand. »Kein Problem, wann soll ich da sein?«
Punkt halb sieben traf ich bei den von Menkwitz’ ein, stürmisch begrüßt von Finja, die sich schon genau überlegt hatte, wie sie den Abend verbringen wollte. Da sie gerade auf dem Märchen-Trip war, türmten sich auf dem Wohnzimmertisch bereits ein Märchen-Memory, diverse Puzzles, sechs leere Wasserflaschen und eine große Schüssel mit getrockneten Linsen und Erbsen. »Na, da hast du ja einiges vor«, lachte ich und zwinkerte Julias Mutter Gesa zu. »Wann muss Finchen denn ins Bett? Wenn ich mir das so anschaue, haben wir ein Programm für das ganze Wochenende.«
»Au ja, Marie bleibt bis Montag«, klatschte Finja begeistert in die Hände, kniete sich auf ein kuscheliges Kissen und begann, die Memory-Karten zu mischen. »Heute darf sie ausnahmsweise bis zehn aufbleiben. Aber danach verschwindest du brav in den Federn und bleibst auch da, nicht wahr, Mäuschen?« Finja schenkte ihrer Mutter einen Blick aus babyblauen Augen, als könne sie kein Wässerchen trüben. Gesa seufzte, schließlich kannte sie ihre quietschlebendige, stets zu Streichen aufgelegte Tochter ganz genau.
»Wo sind denn Julia und Elric?«, fragte ich und folgte Gesa in die stylishe Küche mit Mobiliar aus Edelstahl, wo Abendessen für uns drei bereitstand. »Da bin ich schon«, trompetete Julia und baute sich vor mir auf. »Wahnsinn! Du siehst toll aus«, lobte ich. »Also wenn das André nicht umhaut, dann weiß ich auch nicht.« Julia tippelte eine Weile in der Küche auf und ab, die hohen Absätze ihrer schwarzen Overknee-Stiefel klackerten auf dem Marmorboden, was ihrem Vater garantiert den Schweiß auf die Stirn getrieben hätte. Sie trug einen schwarzen Cord-Mini und darüber einen engen roten Rollkragenpulli, der ihre weiblichen Rundungen bestens zur Geltung brachte. Das rotbraune Haar mit den Goldsträhnchen hatte sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, ähnlich wie Blake Lively aus Gossip Girl. Ihre dunkelbraunen Augen wirkten durch den pudrigen Lidschatten noch wärmer als sonst, die vollen Lippen waren durch einen farblosen Gloss betont.
»Einfach zum Verlieben«, kommentierte nun auch Gesa den Auftritt ihrer Ältesten und nahm sie in den Arm. »Ich wünsch dir einen wunderschönen Abend, mein Schatz. Stell uns André ruhig bald mal vor, wenn es … du weißt schon … ernst mit euch werden sollte.«
»Mann ey, wie siehst du denn aus. Gab’s die Stiefel nicht noch eine Nummer höher?«, zerstörte Elrics Kommentar die Stimmung und ließ Julias Mundwinkel augenblicklich nach unten rutschen. »Was wissen zwölfjährige Jungs schon von hippen Outfits?«, konterte sie und kniff ihren Bruder in die Wange. »Wir sprechen uns, wenn du mir deine erste Freundin vorstellst!« Elric murmelte etwas, das verdächtig nach »Da kannst du aber lange warten« klang, und beäugte dann misstrauisch das Abendessen. »Keine Frikadellen?«, fragte er enttäuscht. »Keine Frikadellen, dafür Mini-Veggie-Burger und Kartoffelsalat«, antwortete Gesa ungerührt und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du für Nele eingesprungen bist und dich heute Abend um die beiden kümmerst. Wenn Elric frech wird, ignorier ihn einfach, und was Finchen betrifft, nun ja, du kennst sie. Wir versuchen, vor Mitternacht daheim zu sein. Leg dich einfach schon hin, wenn du müde bist. Unsere Handynummer hast du ja.«
»Danke, Gesa, ich schaff das schon. Grüß