Die reiche Zukunft hat ein Double. Christine Schick
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Malik schaute auf einen der Bildschirme, dann nach vorne über die Glasscheibe in den Raum, in dem die Dame im Cyberanzug in der Elektro-Lore saß. Wie ein verärgertes Tier blickt sie mich an, dachte er. Leichthelm, Brille und sensorenbestückte, dicke Handschuhe ließen sie wegen ihrer zierlichen Statur wie ein zu groß geratenes Insekt wirken.
Er gönnte ihr die alte, schwere Ausrüstung des Freizeitparks, hob die Hand und rief: „Bitte entschuldigen Sie, wird sofort korrigiert.“ Malik klickte aufs Cowboysymbol und der Wagen bewegte sich auf seiner Bahn langsam weiter in die Halle hinein.
„Was hattest du für die charmante Besucherin vorgesehen?“, fragte Dario. Malik drehte sich zu seinem Bruder um und stand auf.
Einen Waldbrandeinsatz in Spanien oder den 11. September als Feuerwehrfrau, hätte er fast gesagt, riss sich aber zusammen. Es war ihm durchaus bewusst, dass das eher sein Thema war. Er hoffte, dass sein Termin vor Gericht nicht zum Inferno wurde.
„Aufgrund ihrer ausgesuchten Höflichkeit vielleicht eine Runde als Servicekraft in einem Schnellimbissrestaurant, sagen wir in Zentralasien um das Jahr 2000 herum“, meinte Malik.
Dario lachte, ließ sich auf den Sitz vor den Monitoren fallen und schaltete sich durch die Stationen. „Wie war die Auslastung am Vormittag?“
„Die Cyberreisen und Sportkämpfe waren gut besucht, interaktive Dokus und Gastronomie kannst du vergessen“, sagte Malik und fügte hinzu: „Danke, dass du für mich einspringst.“
„Na ja, ich hoffe, dazu beizutragen, dass du dich bei einer Süßen oder einem Süßen festhackst. Dann wäre ich als Geschäftsnachfolger endlich aus dem Schneider“, meinte Dario.
Malik schnappte sich seine Jacke. Auf dem Weg zum Ausgang stieß er mit dem Schienbein gegen eine Metallbox mit alten Brillen und Rechnergehäusen und fluchte leise. Sein Bruder zog die Augenbrauen hoch. „So unkonzentriert kenn ich dich gar nicht. Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Hab meine Tage. Ich muss los“, sagte Malik und ging aus der Tür. Er wollte nicht in die Lage kommen, irgendetwas erzählen zu müssen. Sein Bruder hatte eine große Begabung, ihm Dinge zu entlocken, die ihn beschäftigten. Er hatte aber wenig Lust, ihn und seinen Onkel Sohan nervös zu machen, das war er selbst schon genug.
Die Fahrt in der Unterdruckbahn nahm er nur schemenhaft wahr. Als er im Sozialgericht ankam, forderte eine blecherne Stimme am Check-in ihn auf, seinen Highcontroller abzugeben und sich auf die in den Boden eingelassene Glasplatte vor ihm zu stellen. „Bitte die Augen weit öffnen“, meldete sich die Stimme abermals. Malik stöhnte und blickte auf den Bildschirm gegenüber. Es war für ihn immer noch so, als würde er aufgefordert, sich auszuziehen. Dann fuhr ein heller Lichtstrahl an seinem Körper entlang.
Um sich abzulenken, überlegte er, auf welche Daten sie sich konzentrieren würden. Kleiderherkunft, Muskelzustand, Körperspannung, psychomotorische Gesichtsbewegungen vermutlich im Vergleich zu seinen bisherigen Scans auf Polizeirevieren sowie den allgemeinen Alltagsreise- und -konsumdaten. Aller Wahrscheinlichkeit nach führte kein Ergebnis daran vorbei, dass er am Rande der Gesellschaft stand.
Eine Gruppe Männer, deren Gesichter fast komplett mit Tätowierungen versehen waren, tauchte hinter ihm auf. Malik musste grinsen. Das würde den Scanner einigermaßen herausfordern. Die Gesichtserkennung so auszuknocken, war genial. Eigentlich wäre er gern dabei gewesen, aber im nächsten Moment leuchtete auf dem Display über der Tür sein Name auf. Er sog die Luft ein. Je schneller er das hier hinter sich gebracht hatte, desto besser.
Als er sich der Tür näherte, zog sie mit einem schleifenden Geräusch auf. Es wurde ein nüchterner, weiß getünchter Raum mit drei Stühlen in der Mitte und einem hufeisenförmigen Tischensemble vor ihm sichtbar, an dem ein älterer Mann saß. Mit einer kurzen Handbewegung signalisierte er Malik, sich zu setzen. Die Kameras unter der Decke richteten sich nach ihm aus.
„Mein Name ist Clemens Elderstedt. Ich verhandle heute als Richter Ihren Fall. Einen Technikbeirat erachte ich nicht für notwendig. Sie haben keinen Rechtsbeistand, Herr Cerny?“
„Nein“, sagte Malik und versuchte, sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Die Frage ließ seine Alarmglocken angehen. Das hier war ernster, als er gedacht hatte. Warum hatte er nicht über einen Pflichtverteidiger nachgedacht? Na ja, weil er sich im Recht fühlte. Verflucht!
In seine innere Schimpftirade drang nun etwas vor, mit dem er ebenso wenig gerechnet hatte und das er nur aus alten Filmen kannte.
„Malik Cerny, 30 Jahre, letzte Ausbildung ist ein mit Auszeichnung abgeschlossenes Studium der Informatik und Soziologie. Sie kommen aus nicht ganz einfachen sozialen Verhältnissen, wachsen in einer Familie mit Fahrgeschäft und Puppenbühne auf, die aber schon vor Ihrer Geburt Geschichte ist.“
Der Richter fing an, eine Art Sozialbiografie zu entwerfen, ein Bild von ihm zu zeichnen, um fürs Protokoll klarzumachen, wer hier vor Gericht stand.
„Kein festes Zuhause, immer unterwegs. Ihr Vater verunglückt schwer, als Sie zwölf Jahre alt sind, muss als Schwerbehinderter von der Familie versorgt werden, bis er Suizid begeht. Angesichts dieser Umstände liefern Sie beste Noten in der Schule ab. Aber es gibt noch eine andere Seite. Sie machen sich schon als Jugendlicher einen Namen in der Hackerszene. Das wird publik, als Sie in die Krankenkassendatenbanken eindringen, um die medizinischen Leistungen für ihren Vater zu verbessern, nachdem die Familie vor Gericht verloren hat. Später fallen Sie durch weitere Aktionen auf, bei denen gegen Überwachung demonstriert wird, machen Erkennungssoftware und soziale Algorithmen unbrauchbar. Das zeigt die ungute Mischung aus Zorn und außergewöhnlicher Begabung, mit der Sie nicht zurechtzukommen scheinen.“
Malik konzentrierte sich auf seine Atmung. Länger aus als ein. Er würde diesem Richter nicht recht geben, indem er seine wenig freundlichen Gefühle an die Oberfläche ließ. In diesem Moment saßen sie in seinem Brustkorb, sein Herz hämmerte, seine Hände begannen, feucht zu werden. Länger aus als ein. Leider stand er hier keiner automatisierten, softwaregesteuerten Richterdrohne gegenüber.
Gegen den nüchternen Ritt durch sein bisheriges Leben hatte er noch nicht einmal etwas einzuwenden, aber er fand es anmaßend, das Schicksal seines Vaters mit drei Halbsätzen abzuhaken. Drei Halbsätze. Er lächelte unmerklich, ein Reflex, um die Bilderfetzen und die damit einhergehende Traurigkeit zurückzudrängen, die sich nun zu seiner Wut gesellten.
Das Wichtigste war, sich jetzt in den Richter hineinzudenken, zu überlegen, was er hören wollte, worauf er anspringen würde.
„Der jüngste Vorfall dazu ist recht eindeutig. Um einen Krankentransport für einen jungen Drogenabhängigen zu erzwingen, haben Sie zwei hoch spezialisierte Notfalldrohnen zerstört“, sagte Clemens Elderstedt. „Sie haben kostbare Steuergelder zunichtegemacht. Ich schließe aus Ihrem Verhalten, dass die Verwarnungen früherer Fälle nicht dort angekommen sind, wo sie es hätten sollen. Deshalb denke ich an eine einmonatige Haftstrafe.“
Malik stand reflexartig auf, blinzelte, starrte den Richter an. Seine Gedanken rasten. Knast? Vorbestraft hieße, keine Möglichkeit mehr, frei oder im Park zu arbeiten. Die Auflagen verlangten ein polizeiliches Führungszeugnis ohne Eintrag. Er würde seine Wohnung nicht halten können und sich bei Dragusch erkundigen müssen, wo er Neurodreamer verticken konnte. Spirale abwärts.
Der Richter bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. Länger aus als ein. Er musste reagieren, dem etwas entgegensetzen. Es musste ehrlich klingen, also war es erst mal am besten, ehrlich zu sein. „Herr Elderstedt.