Täterland. Binga Hydman

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Täterland - Binga Hydman

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Marschbefehl herüber. „Ach Sie sind das.“ Aus der oberen Schublade seines Schreibtisches zog der glatzköpfige Obersturmführer einen roten Aktendeckel heraus. „Sie werden schon sehnsüchtigst erwartet.“ Er öffnete den Aktendeckel und zog ein Formular heraus. „Die oberste Führung sieht in Ihnen offensichtlich den Retter des germanischen Abendlandes“, der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Ich verstehe nicht?“, erwiderte Martin mit fragendem Blick. „Auf Grund Ihrer guten Lehrgangsergebnisse hat das SS-Personalamt Sie zu uns in die Leibstandarte versetzt. Was hat man Ihnen über ihre neue Aufgabe mitgeteilt?“ „Nichts, Herr Obersturmführer.“

      Der Mann hinter dem Schreibtisch lächelte amüsiert. „Tja, mein Lieber. Sie haben ganz das große Los gezogen. Wir werden Sie in Berlin hinter einen Schreibtisch wie den meinen setzen.“ Martin konnte seine Enttäuschung nur schwer verbergen. Er hatte fest damit gerechnet, irgendeinem militärischen Verband zugeteilt zu werden, doch jetzt sollte er in einem Büro sitzen und Akten wälzen? „Was genau wird meine Aufgabe sein?“, fragte er seinen Gegenüber. „Sie werden sich mit deutscher Gründlichkeit daran machen unsere Poststelle auf Vordermann zu bringen.“ Na toll, dachte Martin. Jetzt spiele ich also den Postboten.

      Das kleine Zimmer im Stabsgebäude der Leibstandarte hatte schon einmal bessere Zeiten gesehen. Die Wände waren vor Jahrzehnten mit hellgrüner Lackfarbe gestrichen worden, die an vielen Stellen rissig war und den darunter liegenden Putz frei gab. In die Mitte des Raums waren zwei alte Schreibtische aneinander gestellt worden, auf denen sich Dutzende Stapel unerledigter Post befand. An die Wände hatte man einige Aktenschränke gestellt, in denen sich dicht an dicht hunderte von Aktendeckel drängten. Neben einem Bild des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, hing eine farbige Fotografie Hitlers, ansonsten entdeckte Martin nur noch einen Kalender an den sonst schmucklosen Wänden. Auf einem der beiden klapprigen Stühle hockte ein SS-Rottenführer, der offenbar gerade damit beschäftigt war, irgendwelche Formulare zu sortieren. Der Mann war älter als Martin und schien Kettenraucher zu sein, denn auf seinem Schreibtisch stand ein bis an den Rand gefüllter Aschenbecher. Das schwarze Telefon auf einem der Tische klingelte schrill, und der Rottenführer hob den Hörer ab. „Poststelle Leibstandarte, Rottenführer Göring“, murmelte der Mann in die Sprechmuschel. Göring? Martin glaubte sich verhört zu haben. War dieser dicke pockennarbige Mann etwa mit dem Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe Herman Göring verwandt? Ehe er die Möglichkeit erhielt, länger darüber nachzudenken, erhob sich der Mann und nahm Haltung an. Offensichtlich telefonierte er mit einem seiner Vorgesetzten. „Jawohl Hauptscharfüher“, sagte er knapp. Dann legte er auf und hob den Kopf. Erst jetzt schien er zu bemerken, dass er nicht mehr allein war. „Heil Hitler Scharführer, was kann ich für Sie tun?“ Martin trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Heil Hitler. Mein Name ist von Amsfeld. Ich bin der Poststelle zu geteilt worden.“ Sie schüttelten sich die Hände, und Göring musterte ihn interessiert. „Ist man meinem Ruf nach Verstärkung endlich gefolgt.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Es scheint fast so“, sagte Martin. „Na, dann herzlich willkommen im Reich des arischen Aktengotts. Der Schreibtisch da drüben ist dann wohl der Ihre“ feixte Göring, bevor er sich einem neuen Stapel Papieren zu wandte.

      Die Arbeit entsprach nicht unbedingt dem, was Martin mit seiner Versetzung in die Leibstandarte erwartet hatte. Die Hoffnung, in einer Eliteeinheit dienen zu dürfen, zerschlug sich unter diesen Umständen schnell. Sein Tagesablauf entsprach mehr dem eines routinierten Verwaltungsbeamten als dem eines SS- Mannes, dem es nach Heldentaten dürstete. Jeden Morgen brachten Adjutanten, Meldegänger und Sachbearbeiter unzählige schriftliche Vorgänge in die Poststelle. Dabei handelte es sich oft um Personalakten, Befehle, den Schriftverkehr zwischen einzelnen Dienststelle und Dienstanweisungen. Täglich wurde eine Vielzahl von Anordnungen herausgegeben, die abschließend bearbeitet und dann erneut weitergeleitet wurden. Das Volumen der Bürokratie wuchs beständig an und mit ihr der Aufwand an Personal, das versuchte ihrer Herr zu werden. Heinrich Göring stellte sich als ein ausgezeichneter Organisator heraus, dem die tägliche Flut von Akten und Dokumenten nicht das geringste auszumachen schien. Mit stoischer Gelassenheit sortierte er die hereinkommenden Unterlagen, registrierte sie, versah jedes einzelne der Dokumente mit einer Eingangsnummer und sorgte dann für ihre korrekte Weiterleitung.

      Martin stellte nach ein paar Tagen fest, dass dieser Dienstposten in der Poststelle auch etwas Gutes hatte. Zum einen ließ man ihn und Göring meist in Ruhe. Niemand wollte dafür verantwortlich gemacht werden, wenn sich die Zustellung von wichtigen Papieren verzögerte nur, weil man Martin und Göring von ihrer Arbeit abgehalten hatte. Ein weiterer Vorteil war, der ungehinderte Zugang zu Informationen aller Art. Über den Schreibtisch von Martin gingen unter anderem die schriftlichen Laufbahnbeurteilungen von SS-Angehörigen, Berichte aus den Konzentrationslagern sowie tägliche Lageberichte aus den unterstellten Bereichen der SS. Sehr schnell erkannte er die hohe Brisanz einiger dieser Papiere und schon bald verfügte er über ein fundiertes Hintergrundwissen. Sein direkter Vorgesetzter war ein ehemaliger Buchhalter, der den Dienstgrad eines Hautscharführers innehatte. Der Mann war ganz in Ordnung und ließ Martin die Poststelle weitestgehend nach eigenem Gutdünken führen. Nach einigen Wochen der intensiven Einarbeitung hatte Martin die Sache im Griff. Er und Göring kamen gut miteinander aus, nur die zwischenzeitliche Sauferei des Mannes störte ihn, aber so lange die Arbeit nicht darunter litt, deckte Martin die gelegentlichen Eskapaden seines Mitarbeiters. Bei den Offizieren im Stab der Leibstandarte genoss Martin schon bald den Ruf eines zuverlässigen Unterführers.

      Seine Vorgesetzten wussten, dass über den Tisch der Poststelle so ziemlich jedes Stück Papier ging, dass von Bedeutung war. Manchmal versuchten Vorgesetzte über Martin herauszufinden, was deren Vorgesetzte über sie zu Papier brachten. Die meisten Offiziere achteten penibel darauf bei Himmler nicht unangenehm aufzufallen. Viele von ihnen nutzten dabei jede Möglichkeit, ihre Karriere auch auf dem Rücken ihrer Kameraden voranzutreiben. Martin erkannte schnell, dass er als „Herrscher der Poststelle“ über eine gewissen Machtposition verfügte, und so begann er schon bald sich die wichtigsten Informationen einzuprägen. Irgendwann waren ihm die Stärken und vor allem die Schwächen seiner Vorgesetzten geläufig. Viele dieser Männer hielten es mit der ehelichen Treue nicht so genau, soffen oder hatten Spielschulden. Aus den Personalunterlagen eines jeden dieser Männer kannte Martin nach und nach zahlreiche Details, die ihm deutlich machten, dass bei der Leibstandarte auch nur mit Wasser gekocht wurde.

      An einem der nächsten Tage war Martin mal wieder allein in seinen Arbeitsräumen. Sein Untergebener lag nach einer durchzechten Nacht noch in sauer und würde erst gegen Mittag im Büro erscheinen. Wie immer nach solchen feuchtfröhlichen Nächten, würde Göring sich am Nachmittag hinter einem Berg von Akten verstecken und seinen Kater auskurieren. Martin genoss die Ruhe, die ihm so den ganzen Vormittag erhalten bleiben dürfte. Auf dem Hof vor einem seiner Fenster übte eine Gruppe von SS-Männern den Parademarsch. Er lächelte still in sich hinein, als er die Männer dort unten auf dem Appellplatz beobachtete. Vor ein paar Wochen noch hätte er gern dazugehört. Heute war er froh, die Arbeit in der Poststelle erhalten zu haben. Er schloss das Fenster und wandte sich wieder dem Stapel der neuen Posteingänge zu. Das allermeiste war der übliche Routinekram und Martin überflog lediglich die Überschriften. Doch eine rote Aktenmappe weckte sein Interesse. Diese Art von Unterlagen waren ihm bisher noch nicht oft auf den Tisch gekommen. Auf der Vorderseite des dicken Umschlags aus rotem Leinen war in goldener Farbe der Reichsadler eingeprägt. Die Mappe war hochwertiger verarbeitet und schien für ganz besondere Dokumente gemacht worden zu sein.

      Zunächst glaubte Martin, es handelte sich dabei um Beförderungsurkunden oder Belobigungen, aber dann würde die Akte nicht aus dem Büro des Leiters des SD`s (Sicherheitsdienst der SS) Reinhard Heydrich kommen, sondern wie üblich aus dem Personalamt. Martin strich mit der Hand über den feinen Leinenstoff. Das Siegel, das den Inhalt der Akte vor neugierigen Blicken schützen sollte, war schlampig verklebt worden, so dass man sie ohne weiteres öffnen konnte. Martin sah sich um. Er überprüfte, ob sich jemand auf dem Gang vor dem Büro herumtrieb. Als er niemanden ausmachen konnte, ging er zurück zum Schreibtisch und öffnete die Akte.

      Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS

      SD

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