Täterland. Binga Hydman

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Täterland - Binga Hydman

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Blick Paul Gerhards fiel auf die kleine Kapelle. Seit über einem Jahr hatte er in der Gruft unterhalb der Kirche immer wieder Menschen versteckt, die vor den Nazis auf der Flucht waren oder die wegen ihres jüdischen Glaubens mit der Einweisung in ein Konzentrationslager rechnen mussten. Die deutschen Juden waren seit der Einführung der Nürnberger Rassegesetze im Jahre 1935 immer konsequenter, schärferen Repressalien ausgesetzt gewesen. Nahezu rechtlos fristeten diejenigen von ihnen, denen die Flucht ins Ausland nicht mehr gelungen war, ein erbärmliches menschenunwürdiges Dasein. Paul Gerhard von Amsfeld verstand es als seine selbstverständliche und christliche Pflicht, diesen Menschen zu helfen. Erst vor zwei Tagen hatte er fünf Männern zur Flucht in das benachbarte Polen geholfen, um sie vor dem Zugriff der Gestapo zu bewahren. „Schnell, der Führer spricht im Radio.“ Helene winkte den beisammenstehenden Männern und Frauen zu. Sie hatte das Radio auf die Fensterbank gestellt und drehte den Lautstärkeregler auf Maximum. „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5: 45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!“ Die schrille Stimme Hitlers hallte über den Hof und ein paar der Frauen begannen lautlos zu weinen. Paul Gerhard dachte an seinen Sohn, der als Angehöriger der SS jetzt ganz sicher irgendwo auf seinen Einsatzbefehl wartete, um in den Krieg zu ziehen. Der Freiherr hatte als Rittmeister im Ersten Weltkrieg gedient und war aus diesem fürchterlichen Gemetzel als ein bekennender Kriegsgegner hervorgegangen. Er hatte gehofft, nicht noch einmal miterleben zu müssen, wie sich die Völker Europas daran machen würden, sich gegenseitig abzuschlachten. Nun war es also sein Sohn, der auf das Schlachtfeld treten würde, um zu töten und versuchen würde zu überleben. „Das kann doch unmöglich stimmen Herr von Amsfeld“. Eine der Mägde blickte in fragend an. „Die Polen sind doch nicht lebensmüde geworden und greifen einen Gegner an, der viel stärker als sie selbst ist.“ Paul Gerhard lächelte die alte Frau an und nickte zustimmend. „Das stimmt Herta. Ich glaube auch nicht daran, dass wir angegriffen wurden, sondern das wir die Polen angegriffen haben“. Diesen verdammten Nazis war schließlich jede Schweinerei zu zutrauen. Diese Irren werden uns in den Abgrund stürzen und dieses Mal wird der Rest der Welt solange weiter gegen uns kämpfen, bis es kein Deutschland mehr geben wird. Für Paul Gerhard war es nur eine Frage von Tagen, bis Frankreich und England dem Deutschen Reich den Krieg erklären würden. Helene war an ihn herangetreten und riss ihn aus seinen Gedanken. „Was wirst Du jetzt tun?“, fragte sie leise. „Nichts Liebes, ich werde nichts tun.“ Resignation klang in den Worten mit. „Wir werden darum beten, dass Martin unverletzt bleibt und das dieser Krieg nicht allzu lange dauert.“ Jetzt blickte er ihr tief in die Augen und küsste sie sanft auf die Stirn. Dann drehte er sich um und schlenderte gedankenverloren zu den Pferdeställen hinüber.

      Es kam so, wie es Freiherr von Amsfeld vorausgesagt hatte. Nachdem Hitler das von Großbritannien und Frankreich gestellte Ultimatum für einen Rückzug aus Polen verstreichen ließ, erklärten die beiden Großmächte am 3. September 1939 dem Deutschen Reich den Krieg. Polen hatte der hochgerüsteten und modernen deutschen Wehrmacht nichts entgegenzusetzen. Bereits am 17. September zerschlugen Verbände der Wehrmacht große Teile der hoffnungslos unterlegenen polnischen Armee. Zeitgleich überschritten starke russische Truppenverbände die polnische Ostgrenze und machten sich daran Ostpolen zu besetzen. Die Aufteilung des polnischen Staatsgebietes war nur einen Monat zuvor zwischen Deutschland und der Sowjetunion in einem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin Pakt vereinbart worden. Jetzt machten sich die beiden Aggressoren daran, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Am 27. und 28. September wurde Warschau eingeschlossen und durch deutsche Truppen erobert. Die letzten polnischen Truppen kapitulierten am 6. Oktober und das bedeutete das Ende des Polenfeldzuges.

      Etwa 120.000 polnische Soldaten kamen bei den Kämpfen ums Leben und knapp 920.000 traten den Weg in die Gefangenschaft an. Aber auch 10600 deutsche Soldaten kamen während dieses sogenannten „Blitzkrieges“ ums Leben. Für den Polenfeldzug hatte das Oberkommando der deutschen Wehrmacht insgesamt zwei Heeresgruppen aufgestellt. Die Heeresgruppe Nord bestand aus einer Panzer-Division, sowie einer gemischten Wehrmacht- und SS-Panzer-Division. Außerdem waren zwei motorisierten Divisionen, sechzehn Infanterie-Divisionen und eine Kavallerie-Brigade an den Kämpfen beteiligt. Die Heeresgruppe Süd hingegen setzte sich aus vier Panzer-Divisionen, vier leichten Divisionen, einundzwanzig Infanterie-Divisionen und drei Gebirgs-Divisionen zusammen. Zwei Infanterie-Divisionen des XVII. Korps waren slowakisch, während zum XIII. Korps das motorisierte SS-Infanterie-Regiment Leibstandarte Adolf Hitler gehörte. Diesem Regiment, dem auch Martin von Amsfeld angehörte, war dem Befehlshaber der 8. deutschen Armee General Johann Blaskowitz unterstellt und nahm an den schweren Kämpfen um Warschau teil.

      Insgesamt kamen im Polenfeldzug 108 Männer der Leibstandarte ums Leben und auch sein Kamerad aus der Poststelle in Berlin, Henrich Göring verlor bei den Kämpfen um die polnische Hauptstadt sein Leben. Martin hatte einfach Glück gehabt. Während eines Gefechtes schlug direkt neben ihm und Göring eine polnische Granate ein. „Volle Deckung!“, hatte der Zugführer ihnen noch zu gebrüllt, als auch schon der Einschlag erfolgte. Martin, der sich hinter die Reste einer gemauerten Häuserwand geworfen hatte, spürte, wie die Erde unter der Wucht der Detonation des großen Projektils erzitterte. Staub und Dreck flogen durch die Luft, während Fensterscheiben zerborsten und die Mauern der Häuser um sie herum einstürzten. Als Martin die Augen wieder öffnete und den Kopf aus dem Schutt hob, blickte er in die toten leeren Augen seines Kameraden Göring. Den Rottenführer war durch ein Schrapnell der halbe Kopf weggerissen worden, so dass sein Gehirn über das Geröll verteilt worden war. Dieser Anblick war fürchterlich und Martin würde ihn niemals vergessen. Ihm konnte zu diesem Zeitpunkt nicht klar sein, dass er in den nächsten fünf Jahren noch weitaus schlimmeres sehen würde.

      Auch in dem pommerschen Dorf Amsfeld änderte sich das bisherige Leben in diesem September 1939. Der Ortsgruppenleiter Matuschek erhielt durch die Kreisleitung der NSDAP umfangreiche Vollmachten und wurde so quasi über Nacht zum Alleinherrscher des Dorfes. Seinen Anordnungen musste jeder Dorfbewohner uneingeschränkt Folge leisten und die Befehle, die er nun auf die verdutzten Bürger niedergehen ließ, zeigten bereits die ganze Brutalität des Regimes. „Alle Männer des Dorfes haben sich morgen um sechs Uhr auf dem Marktplatz einzufinden, um den Keller des Parteigebäudes zu einem Luftschutzraum auszubauen und das Mauerwerk mit Sandsäcken zu verstärken!“ Matuschek versuchte nicht einmal, zu verbergen, dass diese Maßnahme keinen gesellschaftlichen Wert hatte, sondern nur seine persönliche Sicherheit erhöhen sollte. „Das verdammte Schwein lässt uns buckeln, um seinen eigenen Hintern zu schützen,“ fluchten einige der Männer hinter vorgehaltener Hand, während sie Sandsack um Sandsack füllten. Zusätzlich wurden an den Fenstern der Häuser Verdunkelungsmaßnahmen angebracht und Dutzende Wassereimer in die Hausflure gestellt, um Brände nach Bombentreffern löschen zu können. „Als ob irgendein feindlicher Flieger einen militärischen Nutzen darin sehen könnte unser Dorf zu bombardieren. Diese schwachsinnigen Maßnahmen sind geradezu lächerlich“, stellte Paul Gerhard eines Abends verbittert fest. Helene und er warteten immer noch auf ein erstes Lebenszeichen ihres Sohnes, der nach dem Abschluss der Kampfhandlungen in Polen zurück in das Reichsgebiet verlegt worden war.

      Die Unterkünfte in der alten Kaserne waren miserabel. Die dreistöckigen Gebäude aus der Kaiserzeit hatten schon einmal bessere Zeiten gesehen. An den Wänden der schmucklosen Stuben hatte sich durch Feuchtigkeit der Schimmel ausgebreitet und zum Teil waren die Fensterscheiben zersprungen, so dass der Regen leichtes Spiel hatte in das Gebäude einzudringen. Kleine Pfützen standen auf dem maroden Holzfußboden, der an einigen Stellen bereits aufgequollen war. „Was für ein Drecksloch!“, zischte einer der Männer wütend. Einige seiner Kameraden nickten zustimmend, andere waren einfach zu müde, um sich noch über den desolaten Zustand der Räume aufzuregen. Auch Martin blickte sich angewidert um. Schließlich legte er seine MP 40 und das Marschgepäck neben eines der klapprigen Betten und ließ sich dann ausgelaugt und müde auf die schmuddelige Strohmatratze fallen. „Wie lange sollen wir hier bleiben?“, fragte er seinen Bettnachbarn. „Wir werden morgen jeder unseren neuen Verbänden zugewiesen. Insofern rechne ich damit, dass es erst in ein paar Tagen weitergeht“, murmelte der Mann. Martin zündete sich eine Zigarette an. „Hast Du schon eine Ahnung wo sie Dich hinschicken werden?“

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