Täterland. Binga Hydman
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Wilhelmstraße 102
Berlin
An den
Reichsarzt SS und der Polizei
Dr. Ernst-Richard Grauwitzer
GEHEIME REICHSSACHE
Lieber Parteigenosse Grauwitzer,
Ich sende ihnen heute die gewünschten Informationen bezüglich der geplanten Transporte im Rahmen der „Aktion T4“. Die Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft (GeKraT), hier vertreten durch ihren eingesetzten Geschäftsführer Herrn Hermann Schwennte, eingetragen im allgemeinen Handelsregister des Amtsgerichts Berlin-Charlottenburg, wird den planmäßigen Transport der dafür vorgesehenen Patienten in die Zwischenanstalten und dann weiter in die vorgesehenen Endanstalten durchführen. Außerdem wird die Firma den anschließenden erforderlichen Schriftwechsel mit den jeweiligen Angehörigen der Patienten und den beteiligten Anstalten erledigen. Die standesamtlich beurkundeten Totenscheine werden ebenfalls durch die GeKrat veranlasst.
Sie werden, wie im Vorfelde bereits besprochen, keinerlei Hinweise auf die tatsächlichen Todesursachen aufweisen. Es ist auch weiterhin unbedingt darauf zu achten, dass die reibungslose und erfolgreiche Durchführung der „Aktion T4“ sichergestellt wird. Die Kanzlei des Führers ist über den Sachverhalt umfänglich informiert und billigt ihn.
Mit kameradschaftlichen Grüßen
Heil Hitler
Kubbek, Obersturmbannführer
Martin starrte auf das Schreiben in seiner Hand. Er las es nochmals und dann nochmal, aber sein Verstand weigerte sich das soeben Gelesene zu begreifen. Worum zum Teufel ging es hier? Was war die „Aktion T4“ und welche Patienten waren hier gemeint? In diesem Moment ging die Tür auf und Göring betrat den Raum. „Kannst Du nicht anklopfen!“, ranzte Martin den halbwegs ausgenüchterten Rottenführer an und schob unauffällig einen Stoß Papiere über die geöffnete Akte. Göring blickte ihn mit roten verquollenen Augen an. Dann kratzte er sich am Hinterkopf und ging wortlos auf das kleine Waschbecken in der hinteren Ecke der Poststelle zu. „Ich brauche eine Katzenwäsche.“ Murmelte er dabei und spritze sich etwas Wasser in das verkaterte Gesicht. Martin nutzte die Gunst der Minute und verschloss den roten Aktendeckel wieder. Dann legte er ihn auf den großen Stapel der bereits erledigten Ausgangspost und widmete sich wieder seiner Arbeit.
An diesem Abend war Martin nicht nach Geselligkeit zu Mute. Seine Kameraden forderten ihn zwar auf, sie wie üblich in die Kantine zu begleiten, aber er hatte keine Lust dazu gehabt. Allein lag er auf seiner schmalen Pritsche und blickte gedankenverloren an die grau getünchte Decke des Zimmers. Immer und immer wieder tauchten vor seinem geistigen Auge die Zeilen des Briefes auf, den er verbotenerweise gelesen hatte. „Aktion T4“ hämmerte es in einem Kopf, was war das für ein geheimes Unternehmen? Offensichtlich ging es um den Transport von Patienten, die am Ende der Reise sterben würden. Aber warum sollten deren Totenscheine gefälscht werden? Was würde die wirkliche Todesursache sein? Martin zermarterte sich sein Gehirn. Er spielte verschiedene Gedankenmodelle durch, die aber alle immer wieder zu dem gleichen Ergebnis führten. Mit dem Wissen des Führers und Reichskanzlers des Deutschen Reiches sollten hier offensichtlich kranke Menschen mit Hilfe von Ärzten heimlich umgebracht werden.
Martin setzte sich auf und er zog sich seine Decke über die Schultern. Ihm war plötzlich kalt. Das konnte doch nicht sein? Wer würde so etwas tun? Es ist unmöglich, dass der Führer so eine Sache gutheißt! Ja, sicher während ihrer Ausbildung auf dem Unterführerlehrgang war im Rassenunterricht auch über die weniger wertvollen Rassen, wie die Slawen oder Neger gesprochen worden. Man hatte ihnen beigebracht, dass ein Mensch der germanischen Rasse mehr wert war, als einer dieser Untermenschen. Es hatte ihm eingeleuchtet, dass diese Wesen keinerlei wirklichen Wert hatten, und dass der Arier dazu auserkoren ist sie in der Zukunft zu beherrschen. Aber damals hatte niemand davon gesprochen, kranke deutsche Menschen oder Gebrechliche einfach umzubringen. Martin überkam Übelkeit. Durch das offene Fenster hörte er, wie seine Kameraden in der Kantine feierten. Seine Umgebung erschien ihm plötzlich trostlos und abstoßend.
Plötzlich musst er an seinen Vater denken. Warum das so war, wusste er im ersten Moment selber nicht. Der alte Herr hatte aus seiner Abneigung den Nazis gegenüber nie ein Geheimnis gemacht und Martin erinnerte sich daran, wie häufig ihm das defätistische Gerede seines Vaters in blanke Wut versetzt hatte. Der freigeistige Freiherr und Gutsbesitzer verstand die neue Zeit in der wir Deutschen jetzt leben dürfen einfach nicht. Schon in der Schule hatte man Martin und seine Klassenkameraden gelehrt, dass in der Natur stets nur der Stärkere überlebt, während der Schwächere zu Grunde geht. Sein Vater hatte diese These in Bezug auf den Menschen als unmenschlich und unchristlich abgelehnt.
Martin schüttelte den Kopf. Wenn nun aber diese „Aktion T4“ tatsächlich vorsah kranke deutsche Menschen umzubringen, war es Mord oder eine notwendige Maßnahme, um die eigene Rasse vor schändlichen Erbschäden zu bewahren und zu beschützen? Das Krakeelen der Männer in der Kantine wurde lauter, es wurde wie jeden Abend gesoffen bis keiner von ihnen mehr stehen konnte. Martin schloss das Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Seit einer Ewigkeit hatte er nicht mehr an seinen Vater gedacht. Er erinnerte sich daran, wie er ihn vor ein paar Monaten angebrüllt und einen Judenfreund genannt hatte, nur weil dieser mal wieder etwas gegen die Nazis gesagt hatte. Plötzlich stieg so etwas wie Scham in ihm hoch, und er biss sich auf die Lippen. Er sah die traurigen Augen seines Vaters vor sich, die Fassungslosigkeit in dessen Blick und die Sprachlosigkeit, die seit dem zwischen ihnen herrschte. Sein Vater war nach diesem einen fatalen Wutausbruch Martins zunehmend einsilbiger geworden und hatte seitdem meist geschwiegen, sobald sie zusammen waren. Ich habe ihn gekränkt, beleidigt und belächelt, aber ich habe ihm niemals gesagt, wie sehr ich ihn liebe. Ich habe stets von mir selbst geredet und nie wirklich zugehört. Eine Träne rollte nun über seine Wange. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag und zum allerersten Mal in seinem Leben verachtete er sich selbst.
Es war dunkel geworden und die ersten betrunkenen Landser torkelten zurück in ihre Unterkünfte. Martin stand am Fenster seiner Stube und beobachtete wie sie sich in den Armen liegend gegenseitig stützten und über den Kasernenhof führten. Was sollte er nun tun? Konnte er überhaupt noch etwas tun? Sein Blick fiel auf die schwarze Uniformjacke, die er wie immer an seinen Spind gehängt hatte. Du gehörst dazu, schoss es ihm durch den Kopf. Er war Teil des Ganzen und man würde ihn nicht so einfach wieder gehen lassen. Es war zu spät, dachte er und rollte sich wie ein Kind in seine Decke und weinte. Das Monster hatte ihn gefressen.
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6. Kapitel
Krieg
Der 1. September des Jahres 1939 sollte ein warmer Spätsommertag werden. Die Temperaturen sollten nach Aussage des Wetterberichts tagsüber auf über 30 Grad steigen und die allermeisten Menschen freuten sich darüber. Als gegen 04: 30 in der Früh die ersten deutschen Stukas ihre Bombenlast über dem kleinen polnischen Städtchen Wielun abwarfen, würde es noch etwa 10 Minuten dauern bis auch das deutsche Schulschiff „Schleswig-Holstein“ mit ihren Geschützen die polnische Westerplatte bei Danzig unter Feuer nehmen würde. Der Überfall auf das Nachbarland Polen stellte den Beginn des Zweiten Weltkrieges dar und viele Deutsche ahnten, dass ein neuer großer Krieg nicht viel besser für Deutschland enden konnte, als der vorangegangene. Paul Gerhard von Amsfeld war gerade dabei ein paar Fische auszunehmen, als einer seiner Landarbeiter in die Küche des Hauses stürzte. „Krieg! Herr von Amsfeld, wir haben Krieg.“ Der Mann war völlig außer Atem und stand nach Luft ringend vor seinem überrascht dreinblickenden Arbeitgeber. Der alte Gutsherr legte das Messer und einen halbgeöffneten Fisch auf den Tisch zurück. Dann wischte er sich die Hände in einem Handtuch ab und folgte dem Mann auf den Hof hinaus. Die Frauen und Männer,