Altern wird heilbar. Nina Ruge
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Dies stand im Widerspruch zur Beobachtung, dass in den Stammzellen-Nischen des Fettgewebes und des Knochenmarks, die wir untersuchten, alles in Ordnung schien. Ältere Menschen hatten in ihren Nischen genauso viele Stammzellen wie jüngere Probanden – und die Stammzellen sahen auch genauso aus. Bei der Klärung der Ursache eilte uns die brandneue Technologie der hochauflösenden Genexpressionsanalyse zu Hilfe. Das Ergebnis dieser Untersuchung ließ uns staunen. Es lässt sich am besten im Vergleich mit einer Schulklasse erläutern: Die Stammzellen-Nischen stellen wir uns als Klassenraum vor. Darin sitzen jede Menge Schüler, die sich zwar zunächst nicht groß unterscheiden, aber enorm unterschiedliche Leistungen erbringen. Die Klasse ist sozusagen in verschieden talentierte Schüler gruppiert, im Fachjargon »Subpopulationen« genannt. Die einen Gruppen sind hochmotiviert, arbeiten effizient und mit tollen Ergebnissen, andere Gruppen hängen eher herum und sind einfach faul. Bislang konnte man lediglich die Leistung der gesamten Klasse im Durchschnitt messen, und die wird mit dem Alter deutlich schlechter. Wir aber konnten die Einzelleistungen messen, und dabei kam etwas extrem Wichtiges heraus: Die Klasse bleibt zwar gleich groß im Alter. Doch die Gruppe der Spitzenschüler, also die der Leistungsträger, wird immer kleiner, bis sie sogar komplett verschwindet. Leider sind das gerade die Zellen, die wir schon bei den blutbildenden Stammzellen (HSC) als »Winterschläfer« kennengelernt haben. Diese Untergruppe ist dafür bekannt, dass sie sich im Fall der Fälle ganz schnell aus der Ruhephase aufrappeln und sofort zur Reparatur und Heilung aufbrechen kann. Das Altern von MSC beruht also auf dem Verlust der besonders guten Schüler in der Stammzellen-Klasse und damit der überproportionalen Zunahme der unterdurchschnittlichen Schüler.
Doch auch hier gilt: Was für eine Chance tut sich da auf! Man müsste, um der altersbedingten Stammzellen-Erschöpfung zu begegnen, nur eine kleine Gruppe von Schulkameraden ersetzen! Ansatzweise ist das sogar bereits gelungen. Mithilfe des anspruchsvollen Verfahrens des genetischen Fingerabdrucks konnten wir auch in Stammzellen-Nischen von alten oder diabeteskranken Spendern einige der »guten Schüler« identifizieren und isolieren. Und diese »guten Schüler« waren dann im Versuch bei der Wundheilung absolut genauso leistungsfähig wie ihre jüngeren Kollegen! Mit diesen hochpotenten Stammzellen kann also mangelnde Regeneration ausgeglichen werden. Was also bleibt zu tun? Genau diese Musterschüler im Labor zu züchten und den Patienten bzw. alten Menschen zurückzugeben, um die alte, kraftvolle Zusammensetzung in der Stammzellen-Nische wiederherzustellen – die»Regeneration der Subpopulation in den Stammzellen-Nischen«. Wir bleiben dran!
Große Hoffnung – und leere Heilversprechen?
Nun haben Sie vermutlich keinen Zweifel mehr daran, dass Stammzellen einer der zentralen Pfeiler der Zellkompetenz Erneuerung sind. Wir haben möglicherweise große Hoffnungen geweckt und Sie fragen sich natürlich zu Recht: Gibt es denn bereits seriöse stammzellenbasierte Therapieverfahren? Wie können wir diese vielleicht wichtigste unserer Zellkompetenzen ausnutzen? In Presseberichten wird kein allzu gutes Bild darüber gezeichnet – von Krebsgefahr ist die Rede, von bakteriellen Infektionen, die mit der Therapie einhergehen können, von absoluter Wirkungslosigkeit und Geldschneiderei.
Ja. Die Vorwürfe treffen leider zu – aber nicht immer. Auch in der explodierenden Branche der Stammzellentherapien gibt es schwarze Schafe und erstaunliche Heilerfolge. Auch hier gibt es Schwarz-, Weiß- und Grauzonen. Wir konzentrieren uns in diesem Buch auf die alters-induzierten Krankheiten. Wie bereits erwähnt, wurden für die Bekämpfung einer bestimmten Leukämie, die gehäuft bei älteren Menschen auftritt, und anderer Erkrankungen des blutbildenden Systems wie Lymphomen und Myelomen, schon seit einigen Jahrzehnten seriöse und zertifizierte Stammzellentherapien entwickelt, die auf blutbildenden Stammzellen (HSC) aufbauen.
Jünger sind die Therapieansätze mit den gewebsbildenden Stammzellen (MSC). Hier ist geradezu ein Stammzellentourismus entstanden. Kliniken und Spezialisten besonders in der Ukraine, in Panama, Thailand und auch in den USA werben mit abenteuerlichen Versprechungen – und lassen sich von den Patienten noch abenteuerlicher bezahlen. Man verspricht Heilung unter anderem bei Demenz, Autismus, Multipler Sklerose oder Schlaganfällen. Da für die Stammzellentherapien so exorbitante Kosten in Rechnung gestellt werden, rufen verzweifelte Patienten und ihre Angehörigen in den USA immer häufiger Crowdfunding-Kampagnen ins Leben. Laut des Journals der American Medical Association kamen 2017 bei Crowdfunding-Kampagnen für 408 Patienten immerhin sieben Millionen US-Dollar zusammen. Die Kliniken fördern solche Kampagnen häufig aktiv. Risiken, die mit Stammzellentherapien verbunden sind, kommunizieren sie weniger aktiv.
Nur einige Beispiele: Injektionen von Nabelschnurblut in Wirbelsäule, Knie und Schultern führten – laut Center for Disease Control – gelegentlich zu schweren bakteriellen Infektionen. Nach der Stammzellentherapie eines Schlaganfalls traten Lähmungen auf. Außerdem wiesen etliche der angewendeten Stammzellenpräparate – laut wissenschaftlichen Tests – keine einzige Stammzelle, noch nicht einmal lebende Zellen irgendeiner Herkunft auf. Deshalb ist die amerikanische Gesundheitskontrollbehörde FDA seit 2018 auf den Plan getreten und nimmt Stammzellenzentren in den USA genauer unter die Lupe. In anderen Ländern des Stammzellentourismus ist dies bislang noch nicht der Fall.
In Deutschland dagegen sind die Vorschriften so streng, dass nur sehr wenige Stammzellentherapien durchgeführt werden können. Deshalb beschränken wir uns hier auf das Potenzial seriöser Therapieansätze der Zukunft – die allerdings, wenn die deutsche Gesetzgebung so rigide bleibt, Stammzellenzentren im Ausland auch massenhaft deutsche Patienten bescheren werden. Die sogenannte autologe Stammzellentransplantation, bei der Stammzellen rückübertragen werden, die zuvor aus dem Patienten gewonnen wurden, scheint bei Multipler Sklerose für berechtigte Erfolgsaussichten zu sorgen. Diese Form wird in einigen wenigen europäischen Kliniken mit blutbildenden Stammzellen bereits durchgeführt. Allerdings ist diese Behandlung sehr belastend für den Patienten, denn dabei wird das Immunsystem komplett zerstört und mittels Knochenmarkstransplantationen wiederaufgebaut. Die Risiken sind nicht unerheblich, die Erfolge durchwachsen.
Eine andere Stammzellentherapie entwickelte ich (Dominik) im Rahmen meines zweiten Doktorats. Sie ist auch Schwerpunkt meiner Habilitationsarbeit: Gewebsbildende Stammzellen für die Unterstützung sämtlicher Formen der Wundheilung einzusetzen, etwa bei Verbrennungen, Verletzungen, Operationswunden, chronischen Wunden wie »offene Beine« oder diabetischen Geschwüren. Wundversorgung kostet das Gesundheitssystem jedes Jahr Milliarden. Chronische Wunden sind sehr kostenintensiv und ein Prozent der Bevölkerung leidet mindestens einmal im Leben darunter – besonders im Alter.
Gewebsbildende Stammzellen (MSC) des Patienten sind bei der Wundheilung deshalb besonders verträglich, weil keine Abstoßungsreaktionen zu erwarten sind. Diese Stammzellen kommen auch im Knochenmark vor und wir konnten nachweisen, dass diese sowohl die Wundheilung sehr positiv beeinflussen wie auch Entzündungen im Wundbett hemmen. Die Rate der Wundheilung konnte so deutlich erhöht werden. Allerdings: Aus dem Knochenmark älterer Patienten sind deutlich weniger der Wundheilungshelfer zu isolieren. Und da die Gewinnung von Stammzellen aus dem Knochenmark darüber hinaus einen schmerzhaften chirurgischen Eingriff bedeutet, haben wir uns auf gewebsbildende Stammzellen aus dem Körperfett konzentriert. An Fettgewebe mangelt es den Patienten in unserer Konsumgesellschaft meist nicht und so können wir mit der Methode des Fettabsaugens nur unter örtlicher Betäubung relativ einfach genügend Stammzellenmaterial gewinnen. Zudem ist die Ausbeute an Stammzellen im Fettgewebe sogar noch höher als aus dem Knochenmark. Diese Untergruppe gewebsbildender Stammzellen, adipogene Stammzellen (ASC) genannt, eignet sich sehr gut für die Unterstützung der Wundheilung. Interessant ist, dass ihre Wirkung sehr schnell einsetzt, was darauf schließen lässt, dass sie nicht auf neuer Gewebsbildung beruht, sondern auf sogenannten parakrinen Faktoren: Darunter versteht man die Ausschüttung von Wachstumshormonen oder anderen Steuerungseiweißen, die nicht erst in die Blutbahn abgegeben und dann an die Zielorte transportiert