Hitlers "Mein Kampf". Antoine Vitkine
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Das Desinteresse gegenüber Mein Kampf endet allerdings, als die NSDAP ihre ersten Wahlerfolge erzielt. Othmar Plöckinger, der Pionier auf diesem Gebiet, hat die Rezensionen in Zeitungen, die verschiedenen Abhandlungen und sonstigen Publikationen untersucht und ist zu zwei Schlüssen gekommen: In dem Maße, wie die Nazis an Macht gewinnen, mehren sich die Texte, in denen Mein Kampf als eine wichtige Quelle für Informationen über Hitler erscheint. Aber ihre Verfasser unterschätzen im Allgemeinen die Bedeutung des Buches und konstatieren nur in seltenen Fällen, dass die darin enthaltenen Ideen Wirklichkeit werden könnten.
Die Ersten, die Mein Kampf ernsthaft studieren, sind nicht die politischen Gegner, sondern die staatlichen Organe. Aufstieg und Stärke der Nazis erscheinen ihnen beunruhigend, also fordern sie Berichte an, um deren Absichten und die von ihnen ausgehende Bedrohung einschätzen zu können. Diese Berichte berufen sich insbesondere auf das Werk des Führers. So erscheint in dem hundertseitigen Bericht, den die preußische Polizei 1930 erstellt, Mein Kampf als die wesentliche Quelle für Erkenntnisse über die politischen Ziele der NSDAP. »Der Parteiführer Hitler hat sich zwar […] in öffentlichen Äußerungen, offenbar aus taktischen Gründen, von einer offenen Propagierung der Gewaltanwendung im allgemeinen zurückgehalten. Indes zeigen zahlreiche Anhaltspunkte, daß er, wie er es in seiner Schrift ›Mein Kampf‹ niedergelegt hat […], auch weiterhin zum gewaltsamen Vorgehen gegen den bekämpften republikanischen Staat entschlossen ist«, schließt der Berichterstatter, ohne jedoch konkrete Maßnahmen zu empfehlen.[36] Ein Beispiel für ähnliche Berichte, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen. So geht es hoch bis ins Außenministerium, wo man sich 1931 angesichts der Unruhe, die Hitler im Ausland hervorruft, über seine außenpolitischen Ziele berät und dabei ebenfalls ausdrücklich auf Mein Kampf beruft. Doch all diese Untersuchungen sind zu kaum etwas nütze, da der Staat dank dem Schutz, den das allgemeine Wahlrecht der NSDAP zugesteht, nicht aktiv werden kann.
Die nichtstaatlichen Kommentatoren finden im Allgemeinen, das Buch enthülle mehr Biographisches als Programmatisches, mehr Anekdotisches als Politisches. Die Lektüre von Mein Kampf führt zu Schlussfolgerungen wie der: »Hitler mag niemanden. Er hat nur einen einzigen Instinkt: die Menschen zu beherrschen.«
Also konzentriert man sich eher auf die Details als darauf, sich ein Gesamtbild zu machen, so etwa der Deutsche Beamtenbund, der, gestützt auf ein Zitat aus dem Buch, die Anhänger der Partei warnt, der Nationalsozialismus stelle eine Gefahr für die Beamtenschaft dar. Oder wie das SPD-nahe Blatt, das festhält, was dieses Werk zur Lage der Frau sagt. Bei den Sozialdemokraten oder den Mitgliedern der katholischen Zentrumspartei wird der extreme Rassismus des Buches im Allgemeinen als nachrangig gegenüber den sozialen und institutionellen Vorstellungen betrachtet, die darin entwickelt werden. Die – mächtigen – Kirchen, die katholische wie die protestantische, treibt die Frage um, was Hitler über das Thema Religion schreibt. So besorgt sie angesichts der Feindseligkeit gegenüber dem Christentum sind, wie es in Mein Kampf und in den Reden ranghoher Nazis zum Ausdruck kommt, so gleichgültig zeigen sie sich hinsichtlich Rassismus und Antisemitismus. Ein Pastor schreibt in einem Brief an seine kirchlichen Vorgesetzten über Mein Kampf: »Das braucht mit persönlichem Judenhaß nichts zu tun zu haben, es ist gewissermaßen ein fachlicher Judenhaß …« und bagatellisiert damit das Thema.
Zu erfahren, was die Christen von Mein Kampf halten, ist keine Nebensache: Als es gilt, sich der Euthanasie der unheilbar »Geisteskranken« entgegenzustellen, ja sogar sich zu weigern, die Kruzifixe in den bayerischen Klassenzimmern abzuhängen, tun die Kirchen das mit Entschiedenheit und Erfolg. Auf die antisemitischen Verfolgungen dagegen reagieren die einzigen Institutionen, die es neben dem Generalstab der Wehrmacht im Dritten Reich wagen können, sich Hitler zu widersetzen, die Kirchen nämlich, nur zaghaft. Tatsächlich hat der Vatikan, dessen uneindeutige Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus bekannt ist, sich geweigert, Mein Kampf auf den Index zu setzen, im Gegensatz etwa zu Rosenbergs Mythos des 20. Jahrhunderts, wie Unterlagen aus den Archiven des Heiligen Offiziums enthüllen, die 2003 öffentlich gemacht wurden. Innerhalb der Kirchen werden nur wenige kritische Stimmen laut wie die von Pastor Becker, der seinen Oberhirten ihre Unfähigkeit vorwirft, auf den Rassismus, die Brutalität, den Schrecken und die Lügen zu reagieren, aus denen sich diese »neue Ideologie« zusammensetzt.
In Deutschland gibt es nicht allzu viele warnende Stimmen, aber es gibt sie. In einem 1932 erschienenen Essay erklärt der Politikwissenschaftler Sigmund Neumann, der später in die USA emigrieren wird, es sei schwer einschätzbar, was eine NSDAP an der Macht bedeuten könnte, da sie ja noch nie die Regierung gebildet habe; die Lektüre von Mein Kampf lasse allerdings darauf schließen, dass man auf eine »Durchpolitisierung aller Lebensbezirke« zugehe, obwohl auch in seinen Schriften der Antisemitismus als bloßes Randthema abgehandelt wird.[37] Der Journalist Siegfried Mette, einer der scharfsichtigsten Beobachter des politischen Lebens in Deutschland, beschreibt im Frühjahr 1932 den fanatischen Antisemitismus als die Basis des Hitler’schen Denksystems und warnt vor dem kollektiven Selbstmord, zu dem seine außenpolitischen Pläne führen würden. Doch diese kleine Schrift findet kaum ein Echo, im Gegensatz zu dem Buch von Theodor Heuss, Hitlers Weg, einem zu der Zeit beachtlichen Erfolg im Buchhandel. Heuss, ein Gegner des Nationalsozialismus, zitiert darin mehrmals aus Mein Kampf, kommt aber zu dem Schluss, dass im Vergleich zu den radikalen Ansichten in seinem Buch der Chef der NSDAP vernünftig geworden sei.
Manche Analytiker der linken Opposition zeigen sich hellsichtiger als die anderen. So greift eine von August Siemsen verfasste SPD-Broschüre zahlreiche Zitate aus dem Text heraus und stellt klar: »Diese Sprache ist so deutlich, daß nur wenig Kommentar nötig ist.« Im folgenden Jahr findet eine andere Broschüre, Hitler gegen die Lebensinteressen Deutschlands. Der beabsichtigte Krieg gegen Frankreich, Rußland und die Randstaaten, große Verbreitung, die vor Hitlers Kriegsplänen gegen Russland und Frankreich warnt. Der Verfasser drückt abschließend seine Ratlosigkeit hinsichtlich der Gründe aus, die den Führer der NSDAP dazu gebracht haben, solche Pläne derart offen zu formulieren: »Da stimmt etwas nicht bei Herrn Hitler«, folgert er und bezeugt so seine Verwirrung angesichts eines bislang unbekannten Phänomens.
Aufseiten der Kommunisten, der wichtigen politischen Kraft an den Urnen wie auf der Straße, wird Mein Kampf kaum zur Kenntnis genommen; die KPD betrachtet die NSDAP tatsächlich als eine Partei ohne Anschauungen, ohne Prinzipien, als bloße Marionette der reaktionären deutschen Bourgeoisie. Warum sich also die Mühe machen und ihren Referenztext studieren? Die KPD, die den Nationalsozialismus nur als sekundären Gegner betrachtet – Hauptfeind ist die Sozialdemokratie –, ändert ihre Meinung erst spät: Einige der prominenten kommunistischen Vertreter decken schließlich auf, was die Nazis fälschlich als sozialistische Politik bezeichnen, mit Zitaten aus Mein Kampf zum Nachweis.
Die jüdischen Zeitungen und die sonstigen Publikationen, von denen es in dieser aktiven und gut organisierten jüdischen Gemeinschaft viele gibt, werden offenbar in ihrer ganzen Aufmerksamkeit und all ihren Möglichkeiten der Empörung von den alltäglichen antisemitischen Gewalttätigkeiten in Anspruch