Die Dirigentin. Maria Peters
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Quasi gleichzeitig heben wir fragend die Augenbrauen.
»Im Müll?«, fragt Mark entsetzt.
»Mein Vater ist Müllmann.«
»Und wer hat dich unterrichtet?«, möchte Mark wissen.
»Eine Bekannte meiner Mutter.«
Ich hatte mir zwar vorgenommen, den Mund zu halten, aber jetzt beteilige ich mich doch am Gespräch.
»Und was weißt du über Bach?«
Es bringt sie kurz aus dem Konzept, dass ich etwas frage, sie schaut mich dann aber zum ersten Mal mit ihren großen braunen Augen an.
»Ich spiele nach seinen Noten, das mache ich.«
Die Antwort reicht mir nicht. »Man kann keine Noten interpretieren, wenn man den Mann dahinter nicht gründlich studiert hat«, sage ich ihr. »Weißt du denn, wer der größte Bach-Experte auf der Welt ist?«
»Woher soll sie das wissen?«, unterstützt mich Mark.
Ihre Antwort überrascht uns dann beide. »Albert Schweitzer. Er hat sich so tiefgehend mit Bach beschäftigt wie niemand zuvor«, antwortet sie, während sie aufsteht und sich vor uns stellt. Jetzt muss ich zu ihr hochschauen.
»Leider gab er eine einzigartige Karriere auf und wurde Arzt im afrikanischen Urwald«, sage ich. »Was meiner These, dass Genialität allzu häufig mit einer Geistesstörung einhergeht, neue Nahrung gibt.«
»Sie halten ihn also für gestört?«
»Nun, er versündigt sich an seiner Begabung, wenn er keinen Gebrauch davon macht.«
»Vielleicht hat er mehr Begabung als Arzt.«
Sie blickt mich herausfordernd an, und ich weiß kurz nicht, was ich sagen soll. Sie hat einen wunden Punkt getroffen. Habe ich nicht ebenfalls meine Begabung aufgegeben? Auch wenn die Gründe dafür niemand kennt? Und einem anderen Talent dafür den Vorzug gegeben? Ich entschließe mich, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
»Warum spielst du so?«
»Wie, so?«
»So ohne Gefühl.«
Sie kneift ihre Augen zusammen.
»Weil ich lernen musste, dass niemand meine Gefühle braucht«, sagt sie nach einer kurzen Pause.
Mark wirft mir einen warnenden Blick zu. Hat er gemerkt, dass ihre Augen diesen wässrigen Glanz bekommen haben? Sie steht unter Druck, das ist deutlich. Sie will heute und hier etwas erreichen. Aber sie darf dann nicht gleich im ersten Gespräch über Musik kapitulieren.
»Du musst doch interpretieren, was sich hinter der Musik verbirgt, oder?«, frage ich sie.
»Interpretationen können falsch sein. Sich auf die Noten zu konzentrieren ist immer richtig«, antwortet sie.
»Das ist keine Kunst, das ist bloße Wissenschaft.«
»Bach war ein mathematischer Komponist«, kontert sie.
»Allerdings einer der wenigen, die die Sprache Gottes beherrschen«, entgegne ich.
»Nun, was Gott vorhat, das weiß niemand so genau, oder?«
Zum zweiten Mal bin ich sprachlos. Der Gedanke schießt mir durch den Kopf, dass das nicht so oft passiert. Ich blicke sie direkt an, aber sie sieht nicht weg. Ich wende als Erster den Blick ab und schaue zu Mark, der mich rettet.
»Deine Technik ist schrecklich. Da hilft es auch nicht, so häufig das Fortepedal zu benutzen. Schlag dir das Konservatorium aus dem Kopf. Du hast keine Chance.«
Eine Falte bildet sich auf ihrer Stirn. Dann macht sie einen Schritt auf Mark zu und nimmt all ihren Mut zusammen:
»Können Sie mich unterrichten? Ich werde hart arbeiten. Ich werde alles tun, damit ich besser werde.«
Mark steht auf. »Wenn ich dir einen Rat geben darf: Heirate und schau, dass du ein paar Kinder bekommst.«
»Wie Ihre Frau.«
»Genau.«
Sie schaut von Mark zu mir und dann wieder zu ihm. Schließlich macht sie einen angedeuteten Knicks, voller beißender Ironie.
»Ich hoffe, der Kaffee war zumindest recht.«
Erhobenen Hauptes geht sie zur Tür hinaus.
Mark blickt mich kopfschüttelnd an. »Merkwürdige Person.«
»So schlecht war sie gar nicht«, sage ich.
»Aber sie ist eine Frau«, entgegnet er mir.
Ich nicke. »Sogar eine sehr hübsche Frau.«
~ Willy ~
8
Ich schiebe das Metallgitter des Aufzugs mit einem Ruck zu. Vielleicht war alles sowieso vergebliche Liebesmüh, rede ich mir ein. Goldsmith hatte nie vor, mir eine echte Chance zu geben. Ich schlage kräftig auf den Knopf im Aufzug. Nach unten. Kreischend setzt sich das Ding in Bewegung.
Der Aufzug versinkt mit mir schon im Boden, als Goldsmith aus der Wohnungstür stürmt. Er sieht gerade noch, wie mein Kopf verschwindet.
»Halt, halt!«, ruft er, während er die Treppe, die den Aufzug umkreist, hinuntereilt, um mit mir auf einer Höhe zu bleiben. Ich unternehme nichts. Soll er ruhig mal ein paar Runde drehen, denke ich gehässig.
»Du wolltest doch aufs Konservatorium.«
»Wahrscheinlich, weil ich ›gestört‹ bin, oder?«
»Ich habe es mir überlegt, ich kann dich auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten!«
Der Aufzug ist schneller als er. »Drei Stunden pro Wochen, für je zwei Dollar.«
Nun, das ist ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann. Ich bringe den Aufzug zum Stehen.
Als ich am Abend spät nach Hause komme, sehe ich, wie meine Mutter hinter den bleiverglasten Zwischentüren mit drei ihrer Freundinnen eine Séance abhält. Dass die Damen dabei die Augen geschlossen halten, kommt mir gelegen. Als ich vorbeihuschen will, entdecke ich ihre Taschen auf dem Flurschränkchen. Aus der teuersten schaut ein Schminketui hervor. Das muss die Tasche von Mrs Brown sein, die nie ungeschminkt das Haus verlässt. Ich öffne den Reißverschluss und sehe lauter Schminkutensilien, die wir nie benutzen. Ich stecke das Etui ein und schwöre, dass ich es nach Gebrauch wieder zurückgeben werde, ich bin doch kein Dieb.
Leise betrete ich das Schlafzimmer meiner Eltern. Ich weiß, wo ich suchen muss. Unten im großen Schrank liegen die Koffer, mit den Aufdrucken der Holland-America Line. In ihnen bewahrt meine Mutter ihre alte Kleidung und die Schuhe auf, die