Die Dirigentin. Maria Peters
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»Von ein paar Tränen stirbt man nicht«, faucht sie.
Ich zeige keine Reaktion. Wenn man nichts an sich heranlässt, ärgert es sie am meisten.
Wie üblich stehe ich um halb fünf auf. In der Regel habe ich dann ein paar Stunden geschlafen, aber in dieser Nacht lag ich wach. Mein Kopf fand keine Ruhe.
Wenn jeder Tag von frühmorgens bis spätabends mit Arbeit angefüllt ist, kann man sich selbst lange vorgaukeln, dass alles gut läuft. Aber das stimmte überhaupt nicht. Ich war zwar ständig auf Trab, aber gut lief es auf keinen Fall für mich. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass ich in dieser Nacht zu dieser Einsicht kam, bloß raubte sie mir leider den Schlaf. Ich war von einer inneren Antriebskraft erfüllt, mit der ich zu dieser Uhrzeit überhaupt nichts anfangen konnte.
Ich setze mich ans Klavier und lege meinen müden Kopf auf den Deckel der Tastatur. Ich streichle über das Holz. Wie oft habe ich Trost gesucht bei diesem Instrument, das mein Vater auf dem Müll gefunden hat. Das Holz war stumpf und hier und da rissig. Bei manchen Tasten blätterte der Elfenbeinbelag ab. Zu unserer Verwunderung steckte damals noch der Schlüssel im Deckel; das gab mir ein Gefühl von Sicherheit.
Mutter wollte das Monstrum, wie sie es nannte, nicht in der Wohnung haben, aber Vater setzte sich zum ersten Mal in meinem Leben durch. »Das ist mein Geschenk für Willy«, sagte er. Als Mutter fragte, weshalb ich ein Geschenk verdient hätte, antwortete er: »Heute ist ihr Geburtstag.«
Ich war selbst überrascht, dass ich Geburtstag hatte, denn bei uns ignorieren wir das einfach. Genauer gesagt ignorieren wir alle Feiertage. Aber diesen Tag würde ich nie wieder vergessen. Ich bekam mein Klavier am 26. Juni 1912, an meinem zehnten Geburtstag, und es war das beste Geschenk, das ich je erhielt.
Ich öffne den Deckel und schlage einige Tasten an. Man hört kaum etwas, denn die Saiten werden von einem langen Stock mit Filzlappen gedämpft, der im Klangkasten hängt. Ich habe die Konstruktion selbst gebaut. Ich übe immer zwischen halb fünf und sieben Uhr am Morgen. Das ist die einzige Zeit, die ich für mich habe.
Nach gut einer Viertelstunde höre ich abrupt auf. Jetzt kann ich schon nicht mal mehr klar denken! Ich muss doch heute nirgendwo hin. Aber ich lege mich nicht wieder unter die Bettdecke. Meine Mutter soll nicht mitbekommen, dass etwas an mir ab jetzt anders ist.
Ich streiche eine Anzeige in der Zeitung der strengen Bewerberin durch. Wenn sie wüsste, dass ich ihre eingekreisten Stellenanzeigen abarbeite, um selbst etwas zu finden. Bislang ohne Erfolg. Eine einzige Anzeige mit einem Kringel drum herum ist noch übrig.
Ich betrachte zweifelnd das Varietétheater in der Gasse, in der verschiedene Brandschutzleitern enden. In the Mood prangt über dem Eingang, zu dem eine kurze Steintreppe führt. Oben steht ein muskulöser Portier. Ich bin mir nicht sicher, ob ich hineingehen soll, aber wenn ich schon einmal da bin …
»Ich komme wegen der Stelle als …«, ich schaue in die Zeitung, »Garderobenfrau.« Ich muss zu ihm emporschauen, er blickt auf mich herunter.
»Die ist schon vergeben. Aber sie wäre sowieso nichts für dich gewesen.«
»Weshalb nicht?«
»Wir leben hier vom Trinkgeld … Darum wär’s nichts für dich.«
Er schaut mich geringschätzig an.
Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, und mir ist klar, dass er mich gerade wegen meines Aussehens beleidigt hat, aber mir fehlt die Energie, ihm etwas zu entgegnen. Meine Beine sind müde, und außerdem habe ich ein gemeines Steinchen im Schuh. Ich gehe weiter in die Gasse, streife den Schuh mit dem anderen Fuß ab, hebe ihn auf, um den Stein herauszuschütteln, und entdecke das Loch in der Sohle. Auch das noch.
»Eine Abfuhr bekommen?«
Ich wende mich um und sehe, dass mich ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren beobachtet. Er steht etwas versteckt hinter der Treppe und raucht. Er muss gehört haben, was der Portier gesagt hat. Ich nicke, mehr nicht.
»Wenn du in diesem Metier eine Rolle spielen willst, musst du auffallen.« Seine Stimme klingt leicht amüsiert. Ich schaue ihn mir genauer an. Er trägt einen gut sitzenden, etwas weiten Anzug, der ihm aber steht. Er macht einen freundlichen Eindruck, auch wegen seiner blauen Augen und der blonden Haare.
»Wenn ich nichts finde, habe ich ein echtes Problem«, erwidere ich.
»Ich würde dir ja gerne helfen, aber wir brauchen gerade niemanden, nur einen Musiker.«
Ich werde hellhörig. »Einen Musiker? Ich spiele Klavier!«
~ Robin ~
5
Sie ist irgendwie anders. Ich kann nicht genau sagen, woran es liegt. Ist es etwas Unkonventionelles in ihrem Auftreten? Vielleicht. Die Art, wie sie ohne jede Eleganz ihren flachen Schuh ausgezogen hat, das sieht man nicht oft. Junge Frauen sind gerne mädchenhaft. Sie nicht.
Sie sitzt am Klavier, und ich habe die Gelegenheit, sie etwas genauer zu betrachten, denn ich merke leider sofort, dass mich ihr Spiel nicht fesselt. Sie sagte, es sei ein Stück von Grieg, Wedding Day oder so. Ob du diesen Tag wohl auch einmal erleben wirst, kam mir in den Sinn, aber genug davon. Die Melodie klingt angenehm, aber es bleibt halt Klassik. Meine Musik ist der Jazz. Das spielen wir hier im Club. Jazz und Ragtime. Musik, die swingt. Die Leute kommen hierher, um sich zu amüsieren. Das Leben ist schon schwer genug.
Es hat mich umgehauen, als sie sagte, sie sei Musikerin. Was ich meine – statistisch gesehen war die Wahrscheinlichkeit doch gleich null.
Heutzutage einen Job zu finden ist knifflig. Als ich nach dem Krieg mein Geld als Musiker verdienen wollte, hatte ich keine Chance. Die zurückkehrenden Soldaten fluteten den Arbeitsmarkt, und ich konnte nicht glauben, wie viele Leute plötzlich meinten, ein Instrument zu beherrschen. Qualität zählte kaum, zumindest nahm man die traumatisierten Soldaten lieber, auch wenn ich genauso gut war oder sogar talentierter.
Mitleid kann ein Segen sein, aber ich war der Outcast, denn ich kam weder von der Front, noch hatte ich meinem Land auf eine andere Art gedient. Wenn man hundertmal eine Abfuhr kassiert, wird man kreativ. Ich entschloss mich zu drastischen Maßnahmen: Zunächst zog ich von meinem Dorf in Kansas an die Ostküste um. Dann brach ich mit meinem alten Leben.
In New York war der Konkurrenzkampf noch heftiger, aber Qualität setzt sich hier durch. Innerhalb eines Monats hatte ich verschiedene Angebote. Es tat meinem Ego gut, dass die Clubs sich um mich stritten. Endlich durfte ich das machen, was ich am liebsten tue – ich konnte sogar wählen, wo.
Wenn man ihr Gesicht länger betrachtet, ist es durchaus hübsch. Ein anziehender Mund, regelmäßige Zähne. Das Kinn ist vielleicht etwas spitz, passt aber gut zu ihrem Gesicht. Ein voller brauner Haarschopf, der in Locken bis über ihre Schultern fällt. Und sie hat eine sehr feine Stimme (da achte ich immer drauf).
Aber vor allem ihre klugen braunen Augen machen Eindruck. Wenn sie die aufschlägt und dich anblickt, fühlst du dich … ja wie eigentlich? »Nackt« ist vielleicht der passende Ausdruck. Als würde ihr nichts entgehen. Was mich angeht, sieht sie hoffentlich nicht zu viel. Hier unterbreche ich meinen Gedankenfluss, ich darf jetzt nicht anfangen zu phantasieren. Das