Verräter. Can Dündar

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Verräter - Can Dündar

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war er mit einem Stuhl vor das Gefängnis gekommen, in dem wir einsaßen.

      Mete Akyol vor dem Gefängnis in Silivri.

      Es war Winter, es war eiskalt. Er stellte den Stuhl vor das Tor, setzte sich darauf, hüllte sich in seinen Mantel und las den ganzen Tag ein Buch.

      Es war ein persönlicher Protest, die Warnglocke, die ein damals achtzigjähriger Meister in aller Stille anschlug.

      Bevor er heimging, sagte er: »Ich war einen Tag lang hier. Wenn jeder meiner Kollegen auch nur einen Tag lang herkommt, kann Hoffnung daraus entstehen.«

      Ab dem folgenden Tag kamen Journalisten zu Hunderten und standen mit ihren Stühlen Schlange, um sich an der »Wache der Hoffnung« zu beteiligen. Bald kamen die Menschen in ganzen Busladungen herbei und verwandelten den Platz vor der Haftanstalt in einen Kundgebungsplatz.

      Die Aktion, die der junge Mann von achtzig Jahren eingeläutet hatte, hatte großen Anteil daran, dass ich heute frei bin.

      Als ich aus dem Gefängnis kam, brachte er mir den Stuhl und schenkte ihn mir. Ich versprach ihn dem Pressemuseum.

      Manchmal reicht ein hölzerner Stuhl aus, um einen goldenen Thron zu stürzen.

      Can Dündar

      August 2017

      1 Das Flugzeug

      Ich sitze im Flugzeug.

      Zum ersten Mal seit Monaten.

      Ich lasse vom Himmel den Blick über die Erde schweifen und erinnere mich an die Zeit vor drei Monaten:

      Von einem Gefängnishof schaute ich zu den Flugzeugen am Himmel auf. Wie hoch und groß wirkte die Mauer, wie fern und klein das Flugzeug!

      »Ob ich je wieder im Flugzeug sitzen und in die Ferne fliegen kann?«, seufzte ich damals.

      Gezählte Tage vergehen, schlimm aber ist die Ungewissheit. Ein Lebenslänglicher kommt womöglich nie wieder frei.

      Nun aber schaue ich aus dem Flugzeug auf die Landschaft unter mir. Ich halte Ausschau nach Silivri, nach dem Land der Gefangenschaft, in dem ich drei Monate logierte. Aus der Luft wirkt die Mauer niedrig und klein, das Flugzeug, in dem ich sitze, dagegen groß.

      Schauen wohl jene, die jetzt dort im Gefängnis auf einem der Betonhöfe von vier mal acht Schritt stehen, zum Himmel hinauf?

      Ob sie das Flugzeug sehen und dabei seufzen?

      Im Grunde ist weder das Flugzeug extrem fern noch die Mauer extrem hoch.

      Glauben und Hoffnung bestimmen unsere Wahrnehmung von Dimensionen.

      Ohne Glauben und ohne Hoffnung kommen einem die Mauer höher und die Freiheit ferner vor, als sie tatsächlich sind.

      Hoffnung indes verkürzt die Ausmaße der Mauer, die Entfernung des Himmels, den Weg zur Freiheit.

      Der Glauben überwindet die Mauer und rückt die Ferne näher.

      Und eines ist sicher:

      Was dich nicht umbringt, macht dich stark.

      2 Trennung

      Wenn Sie mit jemandem, den Sie mögen, zusammengesessen und geplaudert haben, verabschieden Sie sich vielleicht mit den Worten: »Wir sehen uns!«

      Aber Sie sehen sich nicht wieder.

      Es ist das letzte Treffen, ohne dass Sie es ahnen.

      Hätten Sie es gewusst, wären Sie vielleicht länger geblieben, hätten sich jedes Wort des anderen genau eingeprägt, seinen Duft in sich aufgenommen, ihn ausgiebig umarmt, wären womöglich gar nicht gegangen; doch es ist zu spät.

      Das tut weh.

      Als Dilek, unser Sohn Ege, der in England studiert, und ich am letzten Junitag 2016 in London zusammen waren, ahnten wir nicht, dass dies unser letztes Treffen vor einer sehr langen Trennung sein würde. Nach einem Interview beim Guardian machten wir es uns auf Liegestühlen draußen vor dem Zeitungshaus bequem, schauten den Enten auf dem Kanal zu und tranken unser Bier, während die zarte Londoner Sonne unsere Haut streichelte. Während meiner Haft hatten wir drei außer an wenigen offenen Besuchstagen nicht zusammen sein können. Nach unserem Treffen in London sollte es dann wieder nahezu unmöglich werden, zusammenzukommen.

      Wir sprachen an jenem Tag nicht von der unerfreulichen Vergangenheit, von Haft und Trennung, sondern von der Zukunft, von der Lage in der Türkei und der Welt. Vermutlich waren wir aber alle in Gedanken bei anderen unerfreulichen Ereignissen, über die wir nicht reden wollten:

      Die Polizei hatte plötzlich die Personenschützer abgezogen, die sie nach dem Attentat auf mich bewilligt hatte.

      Meine Zeitung hatte mir ein Schloss vor die Tür gehängt: »Die Drohung ist ernst, wir müssen Maßnahmen treffen.«

      Die Bank verkündete, der zuvor bewilligte Hauskredit werde vermutlich storniert werden. Wir saßen auf Schulden.

      Von der Staatsanwaltschaft war die Vorladung zu einem neuen Prozess gekommen.

      Die regierungsnahe Presse blies wegen Aussagen, die ich nach meiner Freilassung gemacht hatte, inzwischen zum Generalangriff.

      Bei der Zeitung war es unterdessen zu einem Missklang gekommen. Mehrere mir sehr nahestehende Kollegen aus dem Hirn der Zeitung hatten gekündigt, obwohl ich gesagt hatte: »Mitten im Kampf schmeißt man nicht hin.«

      Ich war erschöpft und bedrückt.

      Von dem Gehetze von einer Einladung zur anderen, die nach meiner Haft aus Europa kamen, drehte sich mir der Kopf.

      Die Strapazen der Haft waren noch nicht überwunden. Die Probleme stapelten sich.

      Ich musste mich ausruhen, mich sammeln, am Strand liegen, Sonne tanken und mit der Lektüre für mein neues Buch beginnen. Möglichst weit entfernt von Telefonklingeln, Krisennachrichten, Drohungen, Ermittlungen, Leibwächtern, Pulverdampfgeruch und Gerüchten in der Zeitung musste ich neue Kräfte sammeln.

      Ich bat die Zeitung und meine Frau um anderthalb Monate Urlaub. Am 7. Juli packte ich Bücher und Sommersachen in zwei Koffer und fuhr allein in Urlaub. Unruhig wie ein aus dem Käfig befreiter Vogel stieg ich ins Flugzeug nach Barcelona.

      3 Flüchtling

      7:30 Uhr morgens.

      Schreie aus den letzten Reihen im Flugzeug:

      Stöhnen, Flehen, kummervolles Gejammer.

      Die traurige Stimme einer wehklagenden Frau.

      Unablässig wiederholt sie dieselben Wörter. Wir verstehen nicht, was sie sagt, doch ihre Empörung ist offensichtlich groß.

      Die Stewardess erklärt den irritierten

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