Verräter. Can Dündar

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Verräter - Can Dündar страница 4

Verräter - Can Dündar

Скачать книгу

wird zum dritten Mal abgeschoben, sie wehrt sich …«

      Um uns zu beruhigen, fügt sie hinzu:

      »Es sind Zivilpolizisten dabei, keine Sorge. Wir sind so was gewohnt.«

      Dennoch sind die Passagiere beunruhigt.

      Die Klage der Frau aus Eritrea wird vor dem Start immer lauter, Passagiere aus den hinteren Reihen ziehen nach vorne um, flüchten vor der Störung.

      Einige setzen Kopfhörer auf, hören Musik oder verlegen sich darauf, nichts zu hören, und schlafen.

      Andere schauen besorgt von weitem zu.

      Niemand aber kommt ihr zu Hilfe, fragt nach ihren Sorgen, sucht nach einer Lösung.

      Schauspiel eines Aufstands, bewacht von zwei Polizisten in Zivil.

      Hinter mir höre ich einen Reisenden sagen: »Gut, dass sie die abschieben.«

      Ich drehe mich zu ihm um.

      Ein Schwarzer.

      Vermutlich also jemand, der vor dieser Frau aus Eritrea einen Platz in Europa ergattern konnte. Panisch darum bemüht, seinen Platz nicht zu verlieren, hat er sein Gewissen eingebüßt.

      Abgebrüht grinst er mich an:

      »Hauptsache, die jagt sich nicht in die Luft …«

      Erst als er meine wütenden Blicke sieht, senkt er die bis zu den Ohren hochgezogenen Mundwinkel.

      Mit dem Flugzeug steigen auch die Schreie auf, fliegen von den hinteren Reihen in Richtung Cockpit.

      Die Frau aus Eritrea schreit, als verbrenne sie bereits in dem Höllenfeuer, in das sie zurückgeschickt wird.

      Ihre glühende Rage raubt den Passagieren das letzte bisschen Ruhe.

      Neugier herrscht auf den luxuriösen Plätzen, Nervosität, Unbehagen, Ärger, Gleichgültigkeit, Angst.

      Aber keine Scham, auch Barmherzigkeit scheint nicht dabei zu sein.

      Bedauern?

      Vielleicht.

      Eine höfliche Durchsage in drei Sprachen, der Aufschrei in einer der Sprachen Eritreas übertönt sie alle.

      Die angenehme Stimme der Stewardess kollidiert mit der Panik in der Stimme der Geflüchteten.

      Das Drama eines Kontinents verwandelt sich in einem Flugzeug in ein symbolisches Schauspiel.

      Die humanistische Schminke Europas verläuft bei diesem Aufschrei; darunter kommt ein distanziertes, ängstliches Menschengesicht zum Vorschein.

      Europa mag es noch nicht bemerkt haben, doch der Schrei, vor dem es die Ohren verschließt, dem es mit Abscheu begegnet, vor dem es flieht, verkündet im Grunde sein eigenes Ende.

      Das Flugzeug Europa trudelt.

      Und wenn sich die in Panik geratenen Europäer streiten, aus dem Flieger zu springen versuchen oder die Tür aufreißen, um Neuankömmlinge hinauszuwerfen, dann sorgen sie dafür, dass das Flugzeug rasant an Höhe verliert.

      Die Panik im Flugzeug und die Unfähigkeit, nicht nur an sich selbst zu denken, hallt in den Ohren wie der letzte Atemzug des alten Kontinents wider.

      Als das Flugzeug landet, sind die Schreie der Frau aus Eritrea verstummt.

      Mit ängstlichen Blicken und raschen Schritten eilen die Passagiere zum Ausgang.

      Sie sind erleichtert. Endlich sind sie einen weiteren Flüchtling los.

      Als alle ausgestiegen sind, beginnt das Bodenpersonal ganz hinten mit dem Putzen. Menschen aus Asien, die darauf warten, dass die Reihe zu schreien an sie kommt.

      Wenn das die Endstation ist, haltet die Welt an, es möchte jemand aussteigen.

      4 Der Putsch

      Die Nacht des 15. Juli 2016 war eine der schwärzesten in der Geschichte der Türkei.

      Am Abend rief Murat Sabuncu an. An meiner Stelle leitete er de facto die Zeitung.

      »Schalte sofort den Fernseher ein! Soldaten haben die Bosporus-Brücke einseitig abgesperrt. Da geht Seltsames vor«, sagte er.

      Damit war meine eine Woche »Dolce Vita« in Barcelona zu Ende. Die Plage hatte mich auch dort eingeholt. Der unvergessliche Satz aus dem Film The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit klang mir in den Ohren:

      »Du wirst keinen Frieden finden, indem du das Leben fliehst.«

      Ich hob den Kopf aus den geliebten Büchern und wandte mich dem Fernseher zu, der hektisch Fragezeichen ausspuckte. Von der Armee, deren Strippen mittlerweile vollständig Erdoğan zu ziehen schien, hatte niemand einen Umsturzversuch erwartet.

      Ein paar Minuten später kam der nächste Anruf:

      »Sieht nach einem Putsch aus.«

      Dabei sah es überhaupt nicht danach aus. Wir Türken haben Erfahrung mit Militärputschen. Um Turbulenzen an der Börse zu vermeiden, werden Putsche meist in der Nacht von Freitag auf Samstag gegen Morgen durchgeführt. Es war zwar Freitag, aber noch nicht einmal Mitternacht. »Normalerweise« werden zuerst das Präsidialamt und der Sitz des Ministerpräsidenten gestürmt, Politiker verhaftet und im Fernsehen eine Erklärung zum Staatsstreich verlesen. Wenn gegen Abend die Bosporus-Brücke gesperrt wurde, sah das vielmehr nach einem der häufigen Suizidversuche aus.

      Konnte es sein, dass die Armee Selbstmord beging?

      Meine erste Hypothese lautete, es müsse sich um den »Reichstagsbrand der Türkei« handeln. Ein solcher Putschversuch würde Erdoğan zum Opfer machen und ihm einen großen Trumpf in die Hände spielen, der ihm ermöglichen würde, die Macht vollkommen an sich zu reißen.

      Doch mit fortschreitender Stunde wuchsen die Ausmaße des Wahnsinns. Die Putschisten bombardierten das Parlament und den Präsidentenpalast; Erdoğan, um Haaresbreite dem Zugriff entkommen, rief die Bevölkerung auf die Straße, die Menschen sollten sich den Panzern entgegenstellen, von den Moscheen wurde zur Gegenwehr gerufen.

      Unverzüglich gab die Regierung bekannt, es handele sich um einen Putsch der »Gülen-Terrororganisation«.

      Sollte das stimmen, erlebten wir die reinste Frankenstein-Geschichte:

      Das »Monster« hatte seinen Schöpfer attackiert und würde nun von diesem vernichtet werden. Der »Held«, der das Monster stoppte, war der Präsident.

      Das war in Erdoğans Worten ein »Geschenk Gottes«. Hatte nicht jede Militärintervention eine neue Rechtsregierung nach sich gezogen?

      Um 1:30 Uhr in jener Nacht twitterte ich:

      »Der 12. September brachte Turgut Özal an die Macht, der 28. Februar die AKP.

      Der 27. April machte Abdullah Gül zum Staatspräsidenten.

      Der

Скачать книгу