Verräter. Can Dündar
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Jede Entscheidung bedeutete zwangsläufig Abschied von etwas anderem.
Innerhalb weniger Wochen war mir zunächst mein Land, dann meine Familie, auch mein Zuhause und schließlich noch mein Job entglitten.
Wie ein vom Baum gerissenes Blatt schwebte ich im Ungewissen. Ungewiss, wohin der Sturm mich treiben würde.
An dem Tag, als Erdoğan sagte, die Regierungsform der Türkei habe sich de facto geändert, packte ich in Barcelona meine Bücher zusammen. Meine Sachen stopfte ich in den Rucksack wie eine Schildkröte, die ihr Haus bei sich trägt.
Nach all den Jahren besaß ich gerade noch so viel, wie in meinen Rucksack und ein paar Koffer passte.
Das löste bei mir aber weniger Wehmut aus, wie sie Exilanten zu eigen ist, als vielmehr das Freiheitsgefühl eines Wanderers.
Jahre zuvor hatte man mich alleingelassen, als ich mein Recht suchte, damals schrieb ich einen Artikel darüber: Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen.
Die Verfassung, die ich darin beschrieb, hatte erneut bei mir angeklopft.
Nach langen Jahren war ich zum ersten Mal wieder allein.
7 Einsamkeit
Man muss seine Koffer stets gepackt halten.
Muss damit rechnen, dass das Telefon einen ganzen Tag lang gar nicht klingelt.
Muss aufhören, hinter der Gardine nach einem Gast Ausschau zu halten.
Muss darauf vorbereitet sein, verraten, verlassen und allein gelassen zu werden.
Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen.
Denn die Zeit der »Schulter-an-Schulter«-Tage ist vorbei. Solidarität ist nun eine Aktie, die an der Börse von heute auf morgen an Wert verliert. Die persönliche Epoche der Entdeckungen hat brüchige Einsamkeiten zurückgelassen. Es ist nicht die Zeit, Kraft aus Gemeinsamkeit entstehen zu lassen, es ist die Zeit, allein aufrecht zu stehen.
Darum muss man sich an die Einsamkeit gewöhnen.
Muss es wagen, mit vielen Straßenvoll Trostlosigkeit allein zu leben.[6]
Muss auf den Schnee auf Bergen schauen, denen man vertraut, und seine Lehren daraus ziehen.
Muss die Gewohnheit fallenlassen, sich in Nächten, die man mit einem wehmütigen Lied verbringt, nach einer Schulter zum Anlehnen zu sehnen.
Muss sich an einen einzigen Teller auf dem Tisch gewöhnen und an wenig Speise darauf.
Muss aus Romanen Zitate, die Einsamkeit preisen, überall in der ganzen Wohnung sichtbar aufhängen.
Muss jeden Tag beginnen mit den Zeilen: Einsamkeit kann man nicht teilen / Wird sie geteilt, ist sie keine Einsamkeit mehr.[7]
Muss den Anrufbeantworter besprechen: »Im Moment ist niemand da, der antworten könnte – vielleicht wird auch nie mehr jemand da sein …«
Muss sich mit dem Schweigen anfreunden, damit, keine Antworten zu erhalten.
Dabei bedeutet Schweigen, dem Unrecht zu applaudieren. Es ist die Würde des »Ich bin im Recht«, die einem Lebenskraft spendet. Die Scham des Schweigens tötet. Deshalb muss man sich in den stillsten Nächten tröstend sagen: »Es war richtig, ich habe es getan.«
Man muss sich daran gewöhnen, dass auf einen Schrei hin kein Nachbar zu Hilfe eilt, daran, vor kalten Mauern still zu weinen. Muss sich mit sich selbst auseinandersetzen.
Muss bereit sein, nachts ins Kissen zu weinen, morgens in den Spiegel zu lachen, Schmerz und Wehmut ebenso wie Lust und Laune mit sich selbst zu teilen.
Muss stark genug sein, um stets aufstehen und gehen zu können, zugleich aber beherzt genug, um bleiben zu können, als würde man kämpfen. Muss Schweigen in Reden verwandeln können.
Und muss jeden Augenblick seinen Rucksack bereithalten.
Muss sich damit anfreunden, unterwegs zu sein.
Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen.
8 Der Brand
Als ich die Zeitung aufschlug, stieß ich auf folgende Meldung:
»Auf Anordnung des Erziehungsministeriums wurden 900000 Bücher vernichtet. Grund für die Vernichtung des Arbeitsbuchs Türkisch für die 8. Klasse war, dass darin als Lesetext der Artikel Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen von Can Dündar enthalten war …«
Ich konnte es nicht glauben.
Es war also so weit, dass mein Name aus Büchern getilgt wurde.
Nach der Vernichtung von 900000 Lehrbüchern, in denen mein harmloser Text stand, ließ das Ministerium das Buch ohne meinen Text neu drucken. Das kostete die Steuerzahler umgerechnet 566000 Euro.
Unwillkürlich fallen einem dabei die öffentlich inszenierten Bücherverbrennungen der Nazis ein. Vor Jahren hatte ich von Erich Kästners Tragödie gelesen:
Als Studenten, begleitet von SS und SA, von Joseph Goebbels aufgehetzt auf dem Berliner Opernplatz Bücher verbrannten, stand auch Kästner in der Zuschauermenge. Unter den verbrannten Büchern befand sich auch eines von ihm.
Ich wohnte der Zeremonie, in der das Buch mit meinem Text vernichtet wurde, nicht bei. Doch selbst von Europa aus vernahm ich den Geruch verbrannten Papiers. Dieser Geruch hatte sich einst auf Plätzen in Deutschland, Italien und Spanien festgesetzt. Es dauerte Jahrzehnte, bis er beseitigt war. Wann und wie würde der Schmutz unserer Asche bereinigt werden?
Heinrich Heine schrieb: »Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.« Das war 1821. In der Türkei waren Menschen schon vor den Büchern verbrannt worden: Im Sommer 1993 forderte in Sivas ein Mob die Scharia und setzte ein Hotel in Brand, in dem Schriftsteller und Intellektuelle tagten. So ermordeten sie dreiunddreißig Menschen.
Laut Bericht des türkischen Verlegerverbands wurden 2016 dreißig Verlage geschlossen mit der Begründung, sie stellten eine Bedrohung für die nationale Sicherheit dar, Hunderttausende Bücher wurden konfisziert. Tausende Menschen wurden verhaftet, weil sie angeblich Bücher besaßen, die Mitglieder von Terrororganisationen geschrieben hatten. Unter den in den Anklageschriften genannten »Organisationsmitgliedern« befanden sich auch Camus, Althusser und Spinoza.
Als Autoren und einzig mit Stift und Buch kämpfen wir gegen eine Geisteshaltung, die Büchern, Stiften und Schriftstellern gegenüber feindlich gesinnt ist.
Um die Entlassung von Wissenschaftlern zu rechtfertigen, die einen Friedensappell unterzeichnet hatten, sagte der Vizerektor einer Universität: »Den Fortbestand der Türkei sichert das ungebildete, unwissende Volk.«
Sogar Universitäten werden von Personen geleitet, die auf Unwissen und Dummheit setzen.
In einem Land, dessen Staatspräsident verkündet: »Manche Bücher sind effektiver als Bomben«, verwundert das nicht.
Verwunderlich