Die Breitseite des Lebens. Ingo Irka
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Dann beginnt am Haus der Verputz zu bröckeln und der harte Beton zerbröselt zu feinem Staub. Alles wird instabil, Verbindungen lösen sich und das gesamte Werk droht einzustürzen. Wollen wir dann überhaupt noch weiterhin darin wohnen? In einem Gebäude, das nicht mehr hält, was es einst versprochen hat? Wohl kaum. Nein, dann kommt die Zeit in der wir einfach ein Loch in die Blase schneiden und aussteigen aus dieser Welt. Wir zimmern uns unseren eigenen Ausgang.
Was wir dabei jedoch nicht bedenken ist, dass wir mit dem Loch gleichsam auch einen Einstieg geschaffen haben. Einen Einlass für all jene, die wir doch niemals hier haben wollten. Für all die ungebetenen Subjekte, die selbst auf der Suche sind nach einer besseren Welt als der ihren und sich wie ein Kuckuck ins gemachte Nest setzen wollen. Sie steigen ein in unsere Welt und beginnen unser Haus umzugestalten. Sie verändern alles nach ihrem eigenen Geschmack. Sie sind die neuen Baumeister, die unserem Haus ihren Stempel aufdrücken.
Und wenn wir dann nach einer Weile überdrüssig von der erfolglosen Ausschau nach neuen Idealen zurückkommen, folgt das böse Erwachen. Unsere Blase ist besetzt. Unser Haus, so wie wir es kannten, gibt es nicht mehr. Und obgleich wir alles unternehmen würden, um die Zeit zurückzudrehen oder die Wiederholungstaste zu drücken, ist es zu spät. Wir sind keine aktiven Besitzer unseres eigenen Lebens mehr. Nein, uns kommt fortan lediglich die Rolle des passiven Betrachters zu. Nur eine falsche Entscheidung hat dazu geführt, dass wir in der Blase statt unseres Lebenswerkes nur noch eine Ruine erblicken. Ein verfallenes Monument, das vielleicht niemals wieder in all seinem früheren Glanz erstrahlen wird.
Und wie viele solche Trümmerhaufen menschlicher Existenzen dabei so manche Blase auf unsrer Erde ausfüllen. Unzählige! Wie Mahnmäler erscheinen sie an jeder Ecke und bezeugen das unheilvolle Schicksal so manch armer Seele. Sie sind an allen Orten zu finden. Überall auf der Welt. Angefangen von den Megalopolen über die Großstädte bis hin zu den Dörfern und Siedlungen. Kein Fleckchen Erde ist sicher.
Nicht einmal das schöne kleine Linz an der Donau. Gerade hier, zwischen Postkartenidylle und dem Funkeln der Wasserkristalle, präsentierte sich bis vor kurzem sogar eine dieser Blasen, die düsterer und verfallener nicht sein könnte. Das Trümmerfeld eines Menschen, der mit einer unbedachten Handlung dem Verderben Tür und Tor geöffnet hatte. So weit, dass er nicht mehr wusste, wie er dieses Übel je wieder aus seiner Welt schaffen konnte. Ja, diese Blase war nicht nur düster und verfallen. Diese Blase drohte sogar zu zerplatzen.
BERICHT 1
Montag, 3. Juli, 6: 45 Uhr
Jede Entscheidung ist der Tod tausend anderer Möglichkeiten
Edgar schlug missmutig seine Augen auf und ließ den Blick im Zimmer umherwandern. Seine Stimmung war am Tiefpunkt. Daran konnten selbst die Sonnenstrahlen nichts ändern, die sich bereits ihren Weg durch die Schlafzimmergardinen gebahnt hatten. Sie schmerzten ihn sogar.
Wie auch der Anblick seiner immer noch schlafenden Ehefrau neben ihm. Zerknirscht musterte er sie von oben bis unten. Ihre viel zu dick geratenen Zehen mit dem billig wirkenden Nagellack. Die schwarzen Haarstoppel auf ihren Beinen. Ihr obligates Nachthemd. Ihre zu kleinen Brüste darin. Und schließlich ihr halbgeöffneter Mund aus dem es roch, als würde eine tote Ratte darin verwesen.
„Und täglich grüßt das Murmeltier! Und das für den Rest deines Lebens“, hörte er sich sagen, ehe er wieder von ihr abließ und seine Decke beiseiteschob.
Mit einem tiefen Seufzer rollte er sich aus dem Bett. Langsam schlich er in Richtung Badezimmer, wo der Spiegel bereits wartete, sein verhärmtes Antlitz zu reflektieren. Was war nur aus ihm geworden? An welcher Weggabelung hatte ihn das Leben falsch abbiegen lassen? Wo war der eloquente und fröhliche Mensch abgeblieben, der er einmal war? Er wusste es selbst nicht. Doch seine tiefen Falten und schwarzen Ringe unter den Augen ließen vermuten, dass es bereits vor langer Zeit gewesen sein musste.
Trotz anfänglich gutem Start. Als er und Lydia sich kennen und lieben gelernt hatten, hing der ganze Himmel noch voller Geigen. Keine Wolke trübte das junge Glück. Nein, die Zeit war geprägt von einer Leichtigkeit des Seins. Man liebte sich einfach. So, wie es sein sollte. Doch irgendwann verstimmten sich die Geigen. Und dann verstummten sie ganz. Die Leichtigkeit des Seins erlosch und die Schwere des Lebens hielt schleichend Einzug. Und daran konnte nicht einmal die Geburt seiner beiden Töchter etwas ändern. Ganz im Gegenteil.
Seitdem war er vielmehr nur noch das fünfte Rad am Wagen. Das fünfte Rad, das keine Bedeutung mehr hatte. Ab diesem Zeitpunkt kippte sein Leben. Sophia und Clara wurden älter. Lydia und er wurden älter. Und ihre Ehe alterte doppelt so schnell. Alles raste dahin und wenn er nicht abbremste, würde es bald vorüber sein. Das Ende seiner Ehe nahte. Und dieses Ende würde wie eine Mauer daherkommen. Mit dem Schluss, dass er demselben Schicksal geweiht sein würde wie Millionen anderer Väter auch. Dem Schicksal eines einsamen, geschiedenen Wochenendvaters.
„Guten Morgen, du Loser“, brummte er mürrisch sein Spiegelbild an und schob sich die Zahnbürste in den Mund.
Das Weiß der Zahnpasta hob sich merklich ab vom Braun seiner nikotingefärbten Zähne. Aber es war ihm gleichgültig. Was sollte es schon für einen Unterschied machen, ob er noch ein strahlendes Lächeln hatte oder nicht, wenn es ihm ohnedies vergangen war. Selbst die Tatsache, dass sich jeden Morgen sein Zahnfleischblut mit in das Waschbecken mischte, schien ihn nicht weiter zu beunruhigen. Zumindest blutete er für sich und für niemand anderen. Außerdem, wem sollte er nach dieser langen Zeit noch gefallen? Lydia? Nein, er brauchte ihr nicht mehr zu gefallen. Er brauchte niemandem mehr zu gefallen. Nicht einmal sich selbst. Ein Mensch, der sich selbst zum Wurm machte, durfte sich nicht wundern, wenn auf ihn hinauf getreten wurde. Bedächtig legte er die Zahnbürste zurück in die Lade und wusch sich die letzten Reste einer unruhigen Nacht aus seinem Augenwinkel.
„Guten Morgen, du Loser“, fluchte er nochmals, ehe er seinem Spiegelbild den Rücken kehrte und in die Küche schlenderte.
Alles, was jetzt an Handgriffen und Bewegungen anstand, war bereits pure Routine und folgte einem stringenten Ablauf: Das Betätigen der Kaffeemaschine. Das Eingießen des gebrühten Kaffees in den Becher. Das Öffnen der Balkontüre. Das Anstecken der ersten Zigarette. Der erste Schluck aus dem Becher. Der erste kräftige Lungenzug des Tages. Und im Anschluss, der allmorgendliche Blick in die Tageszeitung. Schließlich musste man genügend Inhalte aufnehmen, um die ganze Welt getrost verdammen zu können. Genau diese gesamte Chronologie war bereits in Fleisch und Blut übergegangen und bestimmte seit Jahren die ersten Minuten seines Tagesablaufs.
So auch diesen Morgen. Und doch sollte der heutige Tagesbeginn sich etwas anders gestalten, als zunächst vermutet. Nicht etwa, dass die Horrorprognosen zum Klimawandel weniger geworden wären. Nein, daran lag es nicht. Es lag auch nicht daran, dass die Anzahl der Verkehrstoten wieder drastisch angestiegen war. Auch das war nicht der Grund.
Nein, die Ursache, weshalb dieser Morgen sein Leben nachhaltig verändern sollte, war vielmehr im lokalen Mittelteil der Zeitung zu finden. In der Rubrik der Kontaktanzeigen. Noch nie zuvor hatte er sein Augenmerk auf diesen Teil der Zeitung gelegt. Niemals hatte er auch nur einen Gedanken daran verschwendet, sich eine dieser Anzeigen auch noch zu lesen. Wer war schon so verzweifelt, sein Glück über eine Annonce finden zu wollen? Höchstens schwule Buchhalter oder dicke Hausfrauen. Menschen, deren Selbstwert am Nullpunkt war und die zu faul, zu feige oder zu fett waren auf konventionellem Weg einen Partner zu finden. Was sollte er von solch einem Typus Mensch halten? Eigentlich nichts.
Doch