Die Breitseite des Lebens. Ingo Irka
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Das war knapp. Ein Schritt weiter in das Esszimmer und sie hätte direkt auf den Bildschirm geblickt und die ersten unangenehmen Fragen des Tages gestellt. Doch er kam mit dem sprichwörtlichen Schrecken davon. Nochmals starrten seine Augen auf die Eingabetaste. Sollte er drücken oder nicht? Sollte er das Risiko eingehen? Konnte er seiner Frau und den Kindern noch in die Augen sehen, wenn eine Notlüge nach der anderen seine Lippen verlassen würde? Oder würde es ihm egal sein? Würde ihm ein flüchtiges Treffen mit einer schönen Unbekannten mehr wert sein, als seine Ehe? Italienische Vulkanausbrüche oder Bruchrechnungen? Golf oder Reiten? Pasta oder Pommes? Edgar blickte nochmals zur Türe. Dann drückte er Enter.
BERICHT 2
Montag, 3. Juli, 7: 32 Uhr
Mit einer neuen Frau im Haus, tauscht man nur den Teufel aus
Nachdem Edgar den Laptop zugeklappt hatte, erledigte er die letzten Handgriffe zuhause. Dann schloss er alles ab, stieg in den Aufzug und fuhr in die Tiefgarage hinunter. Als er im Auto am Weg zur Arbeit saß, wirkten Lydias Worte aus der Küche noch nach. Er fühlte, dass erneut ein Tag der Fremdbestimmung für ihn begonnen hatte. Wie so oft. Das Gedudel aus dem Radio tat das Übrige für seine Stimmung.
„Always look at the bright side of life“, schallte es durch das Auto.
Er drehte den Lautstärkeregler zurück. Wenigstens hielt der Verkehr sich an diesem Morgen in Grenzen. Nur ein paar vereinzelte Autos hier und da. Ansonsten kein gröberes Aufkommen. Es war vielerorts Betriebsurlaubszeit und das machte sich auch auf den Straßen bemerkbar.
Ursprünglich hätte auch er jetzt bereits seinen Urlaub antreten können. Doch zu Gunsten eines Kollegen hatte er sich bereit erklärt, für ihn einzuspringen und die nächsten paar Tage freiwillig den Journaldienst zu übernehmen. Er bog auf die Hauptstraße und drückte etwas auf das Gas. Immer noch waren fast keine Autos zu sehen. Freiwillige Dienste waren sonst ja nicht so seine Sache. Aber in wirtschaftlich unsicheren Zeiten wie diesen, konnte es nicht schaden hin und wieder seinen guten Willen zu heucheln. Nicht, dass es ihm so erging wie seinem Arbeitskollegen Mike, der auf der Abschussliste der Firma stand, weil er nicht einmal ordentlichen Kaffee für die Belegschaft brühen konnte.
Doch im Grunde genommen hatte er es relativ gut erwischt. Dienstzeiten von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags und an den Freitagen bis drei Uhr. Dabei fünf Wochen Urlaub im Jahr bei vierzehn Gehältern. Und nachdem er bereits seit mehr als zehn Jahren in diesem Unternehmen arbeitete, fiel er bereits in die dritte Lohnstufe der internen Bonuszahlungen. Somit also ein solider Rahmen. Wenn er sich überdies nicht ganz dämlich anstellte, dann würde nächstes Jahr sein Urlaubskontingent sogar auf sechs Wochen erhöht werden. Bezahlt, verstand sich. Alles in allem war seine Arbeitsstätte demnach so etwas wie eine Insel der Seligen im weiten Meer der vielen anderen unglücklichen Arbeitssklaven.
Zuhause durfte er das natürlich nicht zu laut herausposaunen. Hier musste der Eindruck geweckt werden, dass die Arbeit unmenschlich und kolossal anstrengend wäre. Hier hatte der Job als unglaubliche Belastung verkauft zu werden. Die Belohnung dafür war hin und wieder abendlich auf der Couch den Opferstatus genießen zu können und sich der Rolle des Lakaien entledigen zu können. Und wenn es ab und an auch noch einen frei erfundenen Stau bei der Heimfahrt gab, dann war ihm vielleicht sogar der gewünschte Fernsehkanal sicher. Ja, in der Art hatte er sich seine Vorteile und Freiräume zu schaffen. Mit inszenierten Geschichten und kleinen Lügen.
Er passierte den Bahnhof, wo nebst Zugverkehr auch das öffentliche Busnetz der Innenstadt zusammenlief. Schon als Kind wusste er, dass hier der Dreh - und Angelpunkt von Linz war. Wenn damals die angekündigte Verwandtschaft abzuholen war, dann war sie hier zu holen. So etwa, wenn Tante Birte und Onkel Detlev aus dem deutschen Bremerhaven per Zug zum unverhofften Besuch anreisten. Diese Stippvisiten der “Piefke - Bagage“, wie sein Vater sie abschätzig zu nennen pflegte, markierten dann den Punkt, an dem er verstimmt in das Auto stieg und sie hier in der großen Bahnhofshalle in Empfang nahm.
Doch auch wenn Onkel Adi aus Sandl sich mit dem Bus ankündigte, traf man sich hier. Der lustige Onkel Adi mit dem schmucken Oberlippenbärtchen und den schwarzen Springerstiefel. Und meistens im Schlepptau seine noch lustigere Tante Eva, die immer lauter lachte, je später der Abend wurde. Zu fortgeschrittener Stunde konnte sie sogar in einer Fremdsprache reden. So dachte er als Kind zumindest. In Wirklichkeit war sie nur zu betrunken, um noch einen halbwegs sinnvollen Satz herauszubringen. Das wusste er heute. Aber ganz gleich, wer mit Bus oder Bahn kam, hier war immer die Zusammenkunft.
Und exakt hier, an diesem Bahnhof, hatte auch er einige Jahre später viele seiner Stunden zugebracht und seine großen Lebensträume geschmiedet. Wie oft saß er in Zukunftsvisionen versunken an den Bahnsteigen und wartete zu, dass sein Zug ihn zu den Vorlesungen an der Universität brachte. Wie viele Male hatte er die Lautsprecherdurchsagen gehört, während er in der Wartehalle über seinen Skripten und Büchern brütete. Und für was? Für dieses Leben, das schon so gebraucht daherkam? So gelebt?
Eine Hupe riss ihn kurz aus den Gedanken. Ein Kleinwagen war mit einem Laster touchiert und blockierte die Gegenseite der Fahrbahn. Überall lagen Glassplitter und Blechteile. Eine Frau saß weinend am Straßenrand. Sie gestikulierte wild und war völlig aufgelöst. Scheinbar war es ihr Auto, das nun reif für die Schrottpresse dastand. Die Motorhaube war keine Motorhaube mehr, sondern glich vielmehr einer aufgerollten Sardinenbüchse. Das Blech faltete sich überall zusammen und aus dem Innenraum qualmte und nebelte es heraus. Doch zumindest schien der Frau nichts passiert zu sein, so energisch wie sie den Fahrer mit Schimpfwörtern aller Art bedachte. Edgar schüttelte nur den Kopf und reihte sich auf der Spur zum Gewerbepark ein.
Ursprünglich wäre ohnedies alles ganz anders gelaufen für ihn. Ursprünglich säße er heute nicht in einem grobgepolsterten Bürosessel, sondern in einem lederüberzogenen Chefsessel, in dem nur er bestimmen würde, wem eine sechste Woche Urlaub gebühren würde. Doch wie so vieles in seinem Leben war auch dies nur ein geplatzter Traum im Becken voller herber Enttäuschungen und Illusionen. Er sollte damals in die Jagd - und Sportgerätefirma seines Bruders Henrik einsteigen. Er hätte mit ihm gemeinsam den österreichischen Markt mit Jagdgewehren, Sportbögen oder Fischereibedarf bedienen sollen. Er hätte einen tollen Job. Doch er war es letztlich, der durch die Finger schaute und nichts vom Kuchen abbekam.
„Willkommen im Land der Versager“, ratterte es in seinen Windungen, „der einzige Einwohner hier bist du!“
Und das alles, weil ihm nebst vielen Stärken leider auch eine große Schwäche mit auf den Lebensweg gegeben worden war. Eine fast grenzenlose Toleranz gegenüber den Frauen dieses Planeten. Konnte er noch so rational, clever und durchdacht an gewisse Sachen herangehen, so gefühlsgeleitet und infantil war er, wenn es um das weibliche Geschlecht ging. Als würde sich ein lauwarmer Mister Hide aus dem sonst so kühlen Doktor Jekyll schälen, um sich selbst den Garaus zu machen.
So auch im Falle seiner letzten großen Liebe Yvonne, die das Band zwischen ihm und Henrik jäh zerschnitt als er erfuhr, dass sie ihn mit ihm betrog. Sie, die ihm immer vorgaukelte ihn innig zu lieben und zu unterstützen, wo es nur ging. Sie, die nur Augen für ihn hätte und nur allzu gerne mit einem Ring am Finger die Beziehung auf eine höhere Ebene gebracht hätte. Sie, die sogar Kinder von ihm haben wollte. Geradewegs sie zeichnete sich damals verantwortlich dafür, dass seine Welt in Trümmern lag. Trümmer, die auch die Beziehung zu seinem Bruder begruben. Wie sollte er ihm noch länger in die Augen sehen können? Einem Menschen, der allem Anschein nach dachte, Wasser sei dicker als Blut. Gar nicht. Und so trug es sich auch zu, dass er seit mehr als zwanzig Jahren schon keinen Kontakt mehr zu ihm hatte.