Die Breitseite des Lebens. Ingo Irka

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Die Breitseite des Lebens - Ingo Irka

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meine Schöne! Mein Name ist Otto und ich bin ein Pensionist aus dem idyllischen Mühlviertel in Oberösterreich. Ich habe drei erwachsene Kinder mit denen ich einen sehr guten Kontakt pflege. Seit dem Unfalltod meiner Ehepartnerin suche ich eine nette und aufopferungsvolle Frau, die mit mir meinen Bauernhof weiter bewirtschaftet und sich auch um den Haushalt kümmert. Nachdem ich denke in dir genau diese Person gefunden zu haben, würde ich mich sehr über ein zwangloses Treffen mit dir freuen. Zu meinem Unglück muss ich jedoch eingestehen, dass ich seit zwei Jahren im Rollstuhl sitze und auch nicht mehr mit dem Auto fahren kann. Deshalb wäre es schön, wenn wir uns bei mir zuhause im schönen Freistadt treffen könnten, zumal du damit auch einen ersten Einblick in mein Privatleben nehmen könntest…

      „Was ist denn das für ein Blödsinn!“, wurde sie mitten im Satz von Ralph unterbrochen. „Denkt dieser verkrüppelte Bauernarsch etwa, dass du eine Annonce als Landwirtschaftsgehilfin geschalten hast? Und noch dazu in Freistadt. Das liegt ja nicht gerade um die Ecke. Außerdem gibt es bei solchen Typen im Normalfall nicht viel zu holen. Wenn ich schon höre, dass er drei erwachsene Kinder hat, dann kannst du dir schon ausmalen, wer irgendwann sein Erbe antreten wird. Und wenn es dann soweit ist, dann wird der Hof sicher verkauft werden. Das Geld wird unter seiner Brut aufgeteilt und wir stehen mit leeren Händen da. Also kannst du schon ein Häkchen unter diese Rückmeldung machen und sie vergessen. Ist bei deinen sogenannten Verehrern denn niemand dabei, der im näheren Umkreis lebt und auf seinen eigenen Beinen steht?“

      „Lass mich mal sehen“, scrollte sie etwas weiter nach unten. „Wir hätten da unter anderem einen Reinhard aus Braunau, einen Leo aus St. Agatha, Wolfgang aus Bad Kreuzen und…“, ihre Mundwinkel gingen hoch, „.einen Edgar aus Linz.“

      „Volltreffer!“

      Ralph knöpfte hastig das Hemd zu und begann mit dem Binden seiner Krawatte.

      „Wie alt ist der Typ denn?“

      „Er schreibt, dass er Mitte vierzig sei und eine Wohnung nahe der Linzer Innenstadt hätte, von wo aus er bei einem guten Glas Wein bevorzugt auf die Donau blicken würde.“

      „Na, das hört sich doch schon erfolgsversprechend an.“

      Er zog unbeholfen den Knoten bis zum Hemdkragen hoch und strich sich durch sein schütteres Haar. Dann ging er zu Simone in das Wohnzimmer und ließ seine Augen über die Rückmeldung wandern.

      „Ich würde sagen, wir haben den Richtigen gefunden“, frohlockte er. „Hat dieser Wicht auch ein Foto von sich mitgesandt?“

      Simone wanderte mit der Maus über die Nachricht.

      „Nein, noch haben wir es mit einem Gesichtslosen zu tun. Aber ich werde ihm schon noch eines herauslocken. Wahrscheinlich ist er einer von der Sorte Menschen, die nicht gerade mit ihrem Aussehen punkten können. Ganz im Gegenteil zu dir, mein Schatz.“

      Sie zog Ralph die Krawatte zurecht und gab ihm einen dicken Kuss.

      „Ich sollte aber vielleicht noch ein paar Tage vergehen lassen, ehe ich mich bei unserem Eddy Rich melde. In der Zwischenzeit werde ich mir auch die anderen Rückmeldungen noch ansehen. Wer weiß, was noch alles an liebesgetränkten Mails hereinflattern wird.“

      „Mach das!“

      Er erwiderte halbherzig ihren Kuss und streifte sich sein abgetragenes Sakko über.

      „Solange du nicht auf die Idee kommst selbst in der Gegend herumzuflattern. Und was diesen Edgar anbelangt, so hast du Recht. Es wird wirklich ratsam sein, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen und erst in ein paar Tagen Kontakt zu ihm aufzunehmen. Du weißt ja, Geduld ist ein rasender aber verlässlicher Baumeister, oder so. Und wir wollen doch, dass dein Verehrer keinen Verdacht schöpft und im letzten Moment noch von der Schippe springt.“

      Ralph fummelte nochmals an seiner Krawatte herum und schlüpfte in seine Schuhe. Dann positionierte er sich in selbstbewusster Manier vor Simone.

      „Und, wie sehe ich aus?“

      „Wie jemand, der mit Sicherheit die Stelle bekommen wird. Auch wenn er ausnahmsweise kein Boss Hemd trägt, mein Schatz“, antwortete sie lächelnd und musterte ihn dabei von oben bis unten.

      „Genau das wollte ich hören.“

      Er griff nach seinem Zündschlüssel und drehte sich nochmals zu ihr um.

      „Ich glaube heute ist ein guter Tag. Wird auch Zeit.“ Dann ließ er die Tür hinter sich in das Schloss fallen und machte sich auf den Weg.

      BERICHT 4

       Montag, 3. Juli, 11: 24 Uhr

       Ordnung ist das halbe Leben

      Lydia wirkte angespannt. Nachdem sie noch einige Sachen in der Stadt erledigt hatte, fuhr sie mit der Straßenbahn zum wöchentlichen Klatsch und Tratsch in das Café Traxlmayr. Sie zappelte im Abteil hin und her und ihre Finger malträtierten den Haltegriff im Sekundentakt. Nicht etwa, dass es eine unruhige Fahrt gewesen wäre. Nein, die Ursache für ihre Nervosität lag vielmehr im Ablaufdatum ihres Fahrausweises begründet. Soeben hatte sie ihn aus der Handtasche geholt und festgestellt, dass dieser seine Gültigkeit bereits vor zwei Tagen verloren hatte.

      Normalerweise achtete sie penibel genau auf solche Sachen. Sie wusste bis zu welchem Datum Erlagscheine einbezahlt werden mussten. Sie wusste punktgenau die Befristung der Rabattgutscheine vom Supermarkt. Ja, sie wusste sogar das Ablaufdatum der Milch im Kühlschrank. Aber an das Ablaufdatum des Fahrscheins hatte sie diesmal nicht gedacht.

      Und so war sie momentan das, was man gemeinhin als Schwarzfahrerin bezeichnete. Und wenn man sie dabei auch noch erwischen würde, dann wäre sie überdies eine dumme Schwarzfahrerin. Und wie es mit dummen Schwarzfahrerinnen so war, hatten diese für ihren Verstoß zu bezahlen. Und zwar in zweierlei Hinsicht.

      Einerseits in Form einer satten Geldstrafe von siebzig Euro, die beim Ertappen schlagend gemacht würden. Der finanzielle Aspekt jedoch war Lydia in dieser Situation völlig gleichgültig. Das drohende Bußgeld würde sie sofort berappen und es ungesehen in der Kategorie der Nebensächlichkeiten verbuchen. Geld war hier nicht das Problem für sie. Außerdem hätte sie es ohnedies von Edgars Konto abbuchen lassen.

      Was ihr in diesem Moment weitaus mehr zu schaffen machte war der soziale Aspekt ihrer Handlung. Nicht auszudenken, würde sie wirklich gestellt werden. Dieses öffentliche Stigma, diese Scham. Alle Augenpaare wären auf sie gerichtet und jeder würde sie sofort als durchtriebene Betrügerin abqualifizieren. Man würde hinter vorgehaltener Hand über ihre Dreistigkeit reden. Mit dem Finger würde auf sie gezeigt werden. Als laboriere sie an einer ansteckenden Krankheit.

      Gerade sie, eine gestandene Mutter von zwei Kindern, die ihr Leben lang nie mit dem Gesetz konfrontiert war. Sie, die noch nie in Verlegenheit geraten war, sich für irgendeine Straftat verantworten zu müssen. Sie war weder eine Diebin noch misshandelte sie ihre Kinder. Sie rauchte nicht an den Bahnsteigen. Sie gurtete sich immer an. Sie zahlte die Fernsehgebühren ordnungsgemäß und hatte noch nie gegen eine Hausmauer gepinkelt. Wie auch? Sie hatte noch nicht einmal den nötigen Rausch dazu.

      Alles in allem also war Lydia das, was man eine sozialisierte Vollblutmutter nannte. Eine moralische Instanz, die innerhalb der Familie die Regeln aufstellte und genau zu wissen glaubte, was das Beste für jeden sei. Wenn sie die Order ausgab, die Schlafenszeit der Kinder sei sieben Uhr, dann war das so. Es hatte zu geschehen. Ansonsten: Regelverstoß!

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