Die Breitseite des Lebens. Ingo Irka
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„Ja, ja, willkommen im neuen Linz“, bekräftigte Kathy. „Seitdem die Bulgaren und Rumänen freien Zugang zu uns haben, kann man sich einfach nicht mehr sicher fühlen. Eine Bekannte von mir hat mir sogar erzählt, dass sie unlängst im Stadtpark von einem dieser kriminellen Subjekte angesprochen worden sei, ob sie nicht Drogen kaufen wolle und… “
„Das tut ja jetzt wohl nichts zur Sache“, unterbrach Carmen sie. „Erstens, geht es hier nicht um deine Bekannte. Zweitens, handelt es sich um eine Geldbörse und um einen Schlüsselbund und nicht um Drogen. Drittens, ist noch gar nicht klar, ob Lydia wirklich bestohlen worden ist oder ob sie die Sachen nicht einfach verloren hat. Und viertens“, Carmen stellte das leere Weißweinglas zurück auf den Tisch, „könnte es ja genauso gut ein Österreicher gewesen sein. Insofern kann man sagen, dass du, liebe Kathy, nicht nur oberflächlich bist, was dein Aussehen anbelangt, sondern auch in der Beurteilung anderer Menschen. Gerade mit solchen Vorurteilen schürst du nichts anderes als Ablehnung und Angst. Hat dir das dein Sigmund Freud auch gesagt?“
„Vollkommen egal, was dieser Freud sagen würde“, machte Lydia ihrem Ärger Luft. „Und auch völlig nebensächlich, ob Österreicher, Bulgare, Rumäne oder Mister X aus Entenhausen. Fakt ist, dass die Sachen weg sind. Punkt und Amen. Noch schlimmer hätte der Tag heute gar nicht beginnen können. Zuerst die Kontrolleure in der Straßenbahn und als Zugabe jetzt das. Ich darf gar nicht an die vielen Unannehmlichkeiten denken, die nun auf mich zukommen werden. Ich muss die Kreditkarte sperren lassen. Mein Führerschein ist weg. Die Schlösser bei uns zuhause gehören vielleicht ausgetauscht und was das Schlimmste ist“, sie schleuderte die Tasche wütend auf die Bank, „ich werde das Ganze auch noch Edgar beichten müssen.“
„Na, der wird sicher begeistert sein von dieser Aktion“, goss Marie gleich Öl ins Feuer. „Der wird sich freuen wie ein Tanzbär, dass er dir auch einmal eine Unzulänglichkeit vorwerfen kann.“
„Ja, mit Sicherheit. Er wird sich fühlen, als hätte er den Jackpot im Lotto gewonnen. Ich sehe ihn schon triumphierend vor mir, wenn er mir das alles unter die Nase reiben kann. „Aber das kann doch jedem passieren, sogar dir“, wird er sagen. Und das in einem selbstgefälligen Tonfall, dass ich ihm dabei die Augen auskratzen könnte. Und dann wird er seine Augenbraue hochziehen und mich doof anschauen. So herablassend und arrogant. Als hätte ich die ganze Welt verraten. Dabei hat er neulich die bereits dritte Radarstrafe innerhalb von nur einem halben Jahr ausgefasst. „Aber das steht hier nicht zur Debatte“, wird er sagen. Und als Sahnehäubchen werde ich dann noch zu hören bekommen, dass ich doch in Zukunft bitte besser auf unsere Sachen aufpassen solle. Zum Großteil würde ja auch sein hart erarbeitetes Geld darin stecken. Als stehe eine Absicht von mir dahinter, dass sie mir abhandengekommen sind. Ja, so wird es ablaufen.“
Lydia griff mit einem tiefen Seufzen nach ihrem Smartphone und wählte die Nummer des Kreditinstitutes.
„Genau in der Tonart.“
BERICHT 5
Montag, 3. Juli, 16: 22 Uhr
Home, sweet home
Als Lydia den Ersatzschlüssel aus dem Blumentopf im Eingangsbereich hervorgeholt hatte, öffnete sie die Wohnungstüre.
Edgar hatte die Kinder bereits vom Reitunterricht abgeholt. Er machte sich gerade in der Küche daran, das Essen für Clara und Sophia zuzubereiten. Seine Handgriffe wirkten heute jedoch unkoordiniert, ja, fast schon tollpatschig. Das Öl für die Pommes schwamm nicht nur in der Pfanne, sondern auch auf den Herdplatten. Die Verpackung der Filetstreifen lag neben dem Mülleimer. Die abgehobelten Kartoffelschalen klebten vereinzelt auf dem Küchenboden fest und es roch nach verbranntem Fleisch. Der Raum glich eher einem Schlachtfeld, als einer Küche. Und ein Blick schon reichte aus um festzustellen, dass Edgar mit seinen Gedanken irgendwo anders war, nur nicht beim Kochen. Immer wieder schielte er erwartungsvoll hin zu seinem Computer. Vielleicht hatte er schon eine Rückmeldung von Romana erhalten? Vielleicht fand auch sie Gefallen an seinem Profil? Und vielleicht schlug sie ihm ja sogar schon ein Treffen vor?
Er fühlte sich in diesem Moment wie ein Teenager. Ein junger Kerl, der gespannt darauf wartete, ob er auf seinen Liebesbrief ein Ja oder doch ein Nein von seiner Angebeteten erhalten würde. Im Gegensatz zu seinen Jugendjahren wäre eine Abfuhr in der jetzigen Situation jedoch als herber Niederschlag zu werten gewesen. Früher verschmerzte man die Abweisungen auf das ohnedies meist halbherzige Werben mit einem Schulterzucken. Man streifte die Schmach einfach ab und machte sich sofort daran, den nächsten prestigeträchtigen Brief an das nächste Mädchen zu schreiben. Warum auch nicht? Die Auswahl an potenziellen Liebschaften war groß und die Absicht einer längeren Beziehung eher noch auf experimenteller Ebene zu verorten. Dementsprechend gleichgültig stand man als junger Mensch diesem ganzen Liebesbrimborium gegenüber.
Doch nun, dreißig Jahre später, hatte sich alles gewandelt. Zurückweisungen hatten den schalen Beigeschmack einer persönlichen Niederlage. Und eine Absage zur falschen Zeit konnte den Selbstwert dauerhaft in den Keller rasseln lassen. So auch seinen.
Ungeduldig hielt er Ausschau nach neuen Nachrichten. Das Fleisch in der Pfanne nahm währenddessen immer mehr die Textur eines Briketts an. Doch Edgar war so vertieft, dass er nicht einmal mitbekam, dass Lydia mittlerweile die Küche betreten hatte. Erst als ihr Husten an sein Ohr drang registrierte er ihre Anwesenheit. Er klappte den Laptop hastig zu und blickte sie mit einer Mischung aus aufgesetzter Unschuld und latenter Angst ganz erstaunt an.
„Was machst du denn um diese Zeit schon zuhause? Hast du nicht gesagt, du kommst erst gegen neun Uhr?“
Lydia marschierte geradewegs auf die Balkontüre zu und öffnete sie weit.
„Ja, das war eigentlich der Plan. Leider hat sich heute aber alles anders entwickelt, als ursprünglich gedacht.“
Sie warf einen kurzen Blick in die qualmende Pfanne und schob sie unwillig von der heißen Herdplatte.
„Doch wenn ich mir diese Sauerei hier so ansehe, dann stellt sich mir die Frage, was denn eigentlich dein Plan ist?“
„Ich wollte die Kinder vergiften und die Wohnung dem Erdboden gleich machen“, antwortete er trotzig und schnippte den Rest einer Kartoffelschale provokant auf den Boden. „Doch du bist mir zuvorgekommen und hast meinen teuflischen Plan vereitelt. Und auf meine Frage hast du mir auch noch keine Antwort gegeben. Also, wieso bist du eigentlich jetzt schon da?“
Lydia griff nach dem Putzlappen und hielt ihn unter das Wasser.
„Jemand hat mir heute meine Geldbörse und den Schlüssel gestohlen“, gestand sie, während sie das heiße Öl auf der Herdplatte wegwischte.
Sie trug Edgar die ganze Misere vor. Angefangen von der Kontrolle in der Straßenbahn, der offenen Handtasche, bis hin zum Treffen im Kaffeehaus. Kein Detail wurde ausgelassen. So würde sie zumindest seinem nervigen Nachfragen entgehen und sich nicht fühlen müssen wie bei einem richterlichen Verhör. Als sie mit ihrer Beichte fertig war, wartete sie gespannt auf seine Reaktion. Und es kam so, wie es beinahe kommen musste. Das schlechte Gewissen, das Edgar noch vor einigen Momenten im Würgegriff hatte, wich einer offensichtlichen Überlegenheit. Es war jene Form von Überlegenheit, die Lydia beinahe an die Decke fahren ließ. Nicht etwa, dass sie nun einen Wutanfall oder ungezügelte Schimpftiraden ihres Gatten zu erwarten hätte. Nein, ganz im Gegenteil. Seine Überlegenheit äußerte sich vielmehr in Süffisanz und vorgegaukelter