Die Breitseite des Lebens. Ingo Irka

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Die Breitseite des Lebens - Ingo Irka

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musste angerückt und gestrichen werden. Ansonsten: Regelverstoß!

      Wenn sie die Auffassung vertrat, die Bettdecken müssten längs und nicht quer auf dem Bett liegen, dann war das Gesetz, das es zu befolgen galt. Ansonsten: Regelverstoß!

      Und wenn sie die Anwandlung hatte, sie bügle fortan nur noch ihre Kleider, dann hatte Edgar das Bügeleisen selbst zu schwingen. Ansonsten: Knitterhemden!

      Doch jetzt befand gerade sie, die Hüterin des Regelwerks, sich selbst in einem Dilemma. Sie befand sich in der misslichen Lage selbst gegen eine Regel verstoßen zu haben. Zum Glück hatte sie nur noch drei Haltestellen zu überstehen. Und die Wahrscheinlichkeit einer Kontrolle war in dieser Linie ohnedies eher gering. Also würde sie die nächsten paar Minuten die Einstiege noch genau im Auge behalten. In der Hoffnung, dass zwischenzeitlich kein unliebsamer Fahrgast mit einer Marke das Abteil betreten würde. Dann würde sich am Ende alles in Wohlgefallen auflösen. Niemand würde ihren Übertritt bemerkt haben und sie konnte den ganzen unliebsamen Vorfall getrost zu den Akten legen.

      Und für die nächsten beiden Haltestellen hatte es auch beinahe den Anschein, als würde sie ungeschoren davonkommen. Die einzig zugestiegenen Fahrgäste waren Passanten, Touristen oder betrunkene Schichtarbeiter auf dem Heimweg. Aber weit und breit keine Spur von einem Kontrollorgan. Es blieb ruhig. Zumindest vorerst noch. Doch dann kam alles ganz anders und offensichtliches Unbehagen setzte bei Lydia ein. Sie sah aus ihrem Augenwinkel heraus gerade noch zwei verdächtige Gestalten mit einem Hängetäschchen in das Abteil huschen. Sofort schrillten ihre Alarmsensoren auf.

      „Jetzt haben wir den Salat“, schoss es ihr durch den Kopf.

      Ihr Hals wurde länger und länger und ihre Blicke suchten über die anderen Fahrgäste hinweg fieberhaft im ganzen Abteil herum. Und da standen die beiden schon in einiger Distanz. In der rechten Hand ihre Marke und in der Linken das Scangerät. Sie wollten gerade einen Betrunkenen überprüfen, der lautstark gegen diese Kontrolle protestierte.

      „Macht es Euch Spaß unschuldige Steuerzahler zu piesacken und zu provozieren?“, machte er sichtlich angeschlagen seiner Entrüstung Luft.

      „Habt Ihr etwa Minderwertigkeitskomplexe, weil Ihr diesen Job macht? Oder reicht Euer Intelligenzquotient für einen anderen Beruf nicht aus?“

      Sie lauschte angespannt mit und blickte immer wieder panisch aus dem Fenster. Doch die letzte Haltestelle lag noch ein Stück weit entfernt.

      „So, hier habt Ihr das beschissene Ticket. Und jetzt lasst mich gefälligst in Ruhe, Ihr Penner!“

      Er zog den Fahrausweis aus der Jackentasche und warf den beiden Kontrolleuren einen verächtlichen Blick zu.

      „Noch so eine Beleidigung und Sie haben ein massives Problem“, meldete sich nun einer der beiden zu Wort, „und außerdem ist Ihr Fahrschein ungültig. Sie hätten bereits vor zwei Haltestellen aussteigen müssen. Ihr Ticket ist nur bis zur Goethekreuzung gelöst worden.“

      Bei diesen Worten zückte der andere Kontrolleur auch schon seinen Scanner und begann zu tippen. Das war ihre Chance. Jetzt waren beide abgelenkt. Sie ging etwas in die Hocke und machte sich nach und nach immer kleiner. Bis sie auf Gürtelhöhe der Fahrgäste war. So mancher unter ihnen senkte den Blick und sah sie beinahe entwürdigend an. Ihr war, als könnten sie allesamt in fettgedruckten Lettern Schwarzfahrerin über ihrem Kopf lesen. Was für ein demütigendes Bild musste sie gerade abgeben. Doch was hätte sie tun sollen? Lauthals zugeben, dass sie keinen gültigen Fahrschein hatte? Undenkbar! Geduckt wie eine Eingeborene auf der Pirsch, drängte sie sich weiter zurück durch die Menge in Richtung Ausstieg. Immer wieder blieb sie mit ihrer Tasche dabei irgendwo hängen, dass diese unkontrolliert hin und her schwang. Dass sie noch immer halb geöffnet war, bemerkte sie gar nicht. Doch sie hätte in diesem Moment wahrscheinlich nicht einmal einen gelben Dinosaurier mit Nickelbrille direkt vor ihr bemerkt. Zu sehr war sie mit sich selbst beschäftigt. Plötzlich verlangsamte sich das Tempo der Straßenbahn. Jetzt musste es schnell gehen. Sie drückte den Halteknopf. Die Straßenbahn blieb stehen. Die Türe öffnete sich und sie betrat endlich wieder sicheren Boden.

      Alle Bürde fiel in diesem Moment ab von ihr. Sie war so froh, nicht erwischt worden zu sein. Es war ein Gefühl, als hätte eine höhere Macht schützend die Hand über sie gelegt. Als wäre ihr Absolution erteilt worden. Wie damals, als sie mit ihrer Tante im Auto bei der orangen Ampel doch noch stehen blieb, während der Fahrer hinter ihr sie überholte und prompt vom Gegenverkehr erfasst wurde. Hätte sie auf die Anweisungen von Birte gehört, dann wäre sie es gewesen, die mit kaputtem Auto und Schleudertrauma dagestanden wäre. Doch alles war gut. Auch dieses Mal.

      Sie drehte sich um und sah erleichtert durch die Fenster in das Abteil. Immer noch waren die beiden Kontrolleure mit dem Betrunkenen beschäftigt.

      „Armer Mensch, aber einen trifft es wohl immer!“, bemitleidete sie ihn, ehe die Straßenbahn wieder aus der Station bog und langsam weiterfuhr.

      Als sie in der Nähe des Linzer Grabens im Traxlmayr eintraf waren alle bereits gesammelt anwesend. Carmen nippte schon andächtig an ihrem Weißwein, während ihre anderen beiden Freundinnen noch auf den Kaffee warteten.

      Obschon, richtige Freundinnen waren sie allesamt eigentlich gar keine. Eher weitläufige Bekanntschaften. Wahre Freundschaft zeichnete für Lydia sich seit eh und je durch Vertrauen aus, durch gegenseitige Zuneigung und ernstgemeinte Hilfsbereitschaft. Allesamt Attribute, die Freundschaften für sie erst als solche definierten. Bei ihren Bekanntschaften hier hingegen traf weder das eine noch das andere zu. Man konnte ihnen nichts anvertrauen, ohne dass es am nächsten Tag nicht die ganze Welt wusste. Zuneigung bestand lediglich dann, wenn sie im Gegenzug etwas brauchten. Und Hilfsbereitschaft kam in ihrem Wortschatz gar nicht vor. Hilfe benötigten nur die Schwachen. Und Schwäche zu zeigen kam gar nicht in Frage. Demnach waren es eher Scheinfreundschaften und im strengsten Sinne nicht einmal das. Sie waren eine „Schar von dekadenten Geiern mit verlogenem Gewinnerlächeln“, wie Edgar sie zu nennen pflegte, die lediglich danach trachteten, sich über Oberflächlichkeiten und aufgesetztem Gehabe zu statuieren.

      „Gott bewahre, wenn es dir einmal schlecht geht und du die Hilfe deiner sogenannten Freundinnen brauchst“, hatte er Lydia des Öfteren schon versucht, einzutrichtern, „dann wird sich zeigen bis zu welchem Grade dieses falsche Pack hinter dir steht und dich ehrlich unterstützt.“

      Und im Grunde genommen hatte er auch Recht. Der Schein wurde gewahrt, am Sein hingegen gespart. Doch was sollte Lydia machen? Zuhause herumsitzen und ihre freie Zeit mit Däumchen drehen totschlagen? Ihr war sonnenklar, dass ihre wöchentlichen Zusammenkünfte nie über den Status eines bloßen Lückenfüllers hinausgehen könnten. Doch der Zweck heiligte die Mittel. Man wusste sonst nichts mit seiner Zeit alleine anzufangen. Also traf man sich eben hin und wieder, um gemeinsam einsam zu sein. Nicht mehr und nicht weniger.

      Doch zumindest traf man sich im Traxlmayr und nirgendwo anders in der Stadt. Lydia liebte diese Lokalität. Es war so etwas wie eine Rückzugsoase, in der man ganz gelöst vom Alltagsstress dem süßen Nichtstun nachhängen konnte. Mit seinen verspielten Stuckelementen und den überdimensionierten Kronleuchtern vermittelte das Traxlmayr dabei ein Stück weit verloren geglaubte Kaffeehauskultur in Linz. Über den großen Fenstern, die ein schönes Panorama auf die Linzer Promenade gewährten, hingen ausladende Stores, die den Innenraum in eine fast barock anmutende Atmosphäre tauchten. Die Stühle und Bänke waren allesamt mit edlem Gobelinstoff gesäumt. Sie muteten wie Sitzgelegenheiten aus den noblen Salons der Rokokozeit an. Und selbst der glänzende Fußboden spiegelte mit seiner dezenten Marmorierung die Stimmung längst vergangener Tage wieder. Ja, dieses Café verstand es stilistisch wie kein anderes die

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